Töte, Bajazzo
Mirellas Gunsten traf, dann hatte ich sie im Stich gelassen.
Es war ein ›Fall‹, bei dem ich mich auf keine Fakten stützen konnte.
Nur eben auf irgendwelche Aussagen, die auch nicht greifbar waren und auf einer gewissen Basis des Vertrauens beruhten. Nie hätte mir Sir James die Erlaubnis erteilt, mich offiziell einzumischen, zudem wollte ich so schnell wie möglich nach London, mich aber hätte dann das schlechte Gewissen gequält. Sollte ich irgendwann einmal in den Zeitungen lesen, daß einer gewissen Mirella Dalera etwas passiert war, würden die Selbstvorwürfe ewig bestehen.
Ich wollte ihr nach!
Durch einen Wink herbeigerufen, bat ich den Pagen um das Telefon. Er verbeugte sich, verschwand, war im Nu wieder da und reichte mir den tragbaren Apparat.
Wieder läutete es in London durch, und diesmal klang großes Staunen in der Stimme des Superintendents mit, als ich mich schon wieder meldete.
»John, ist etwas passiert?«
»Nein, noch nicht, aber es gibt ein Problem.«
»Ihre Stimme hört sich nicht gut an.«
»So ähnlich fühle ich mich auch.«
»Dann raus mit der Sprache!«
An diesem Donnerstag hatte ich wirklich Glück gehabt, denn ich erwischte meinen Chef genau auf dem richtigen Fuß. Er hörte sich mein Problem ruhig an und gab auch keinen Kommentar ab, als ich über die Folgen sprach, die ich mir ausgemalt hatte.
»Nehmen Sie das auf Ihre Privatkappe?« erkundigte er sich vorsichtshalber.
»Mir steht noch viel Urlaub zu.«
»Wie viele Tage?«
»Kann ich nicht sagen, aber drei würden mir reichen, denke ich mal.«
Er brummte irgend etwas, dann meinte er: »Ich kenne Sie ja, John. Ich kann mich auch in Ihre innere Verfassung hineindenken, Sie mögen darüber lachen, aber es stimmt. Fahren Sie zu diesem Ort. Wenn Sie sagen, daß es drängt, dann bin ich dafür. Wie heißt das Dorf oder die Stadt denn, falls ich Sie mal erreichen muß.«
»Maiori.«
»Hm, hört sich komisch an. Ich werde es mir aufschreiben. Also gut, Sie halten mich aber auf dem laufenden.«
»Ja und danke, Sir.«
Sichtlich erleichtert legte ich auf. Mein Lächeln galt dem im fernen London sitzenden Sir James. Es tat gut, einen Chef wie ihn zu haben. Im Laufe der Zeit hatte er doch sehr viel Verständnis für gewisse Dinge entwickelt.
Wieder kam mir der Service dieses Hotels zugute. Noch während ich frühstückte, wurde für mich ein Flug herausgesucht und gleichzeitig ein Mietwagen gebucht. Es klappte wie bestellt. Ich brauchte nach dem Essen nur den Koffer zu nehmen, die Rechnung zu zahlen und in ein Taxi zu steigen, das mich zum Flughafen brachte.
War es verrückt, was ich tat?
Nein, ich glaubte es nicht, denn ich hatte einfach nur menschlich gehandelt…
***
Der Zug nach Neapel hatte Mailand verlassen, und Mirella Dalera kam sich vor, als wäre sie eine Raupe, die aus ihrem Kokon schlüpft. Bei ihr hieß der Kokon Leben. Sie hatte dieses eine Leben verlassen, um in ein anderes einzutauchen.
Nicht mehr und nicht weniger. Und sie konnte auch nicht behaupten, daß sie es bereut hätte. Es war genau richtig, was sie da gemacht hatte, denn diese grausame Erscheinung galt einzig und allein ihr, auch wenn Benito Kraus sein Leben verloren hatte. Tatsächlich aber hatte der unheimliche Mörder sie gemeint.
Damit mußte sie erst fertig werden, und in Maiori, ihrem Heimatort, würde sie damit fertig werden, dort war sie nicht allein, dort war man stolz auf sie und dort konnte sie bei jedem Einwohner sofort Hilfe finden.
Die Menschen dort hielten noch zusammen, auch wenn sie nicht immer gesetzestreu waren, denn viele Fischer aus dem Ort waren im Golf als Schmuggler unterwegs.
Wenn der Clown dort erschien, war sie nicht allein.
Allein war sie am schmalen Tisch des Speisewagens. Sie rührte gedankenverloren ihren Kaffee um und dachte an die stundenlange Fahrt, die noch vor ihr lag. Erst am sehr späten Nachmittag würde sie in Neapel eintreffen und von dort mit einem Leihwagen nach Maiori fahren.
Ihren Eltern hatte sie nichts gesagt, die anderen Verwandten wußten auch nichts, sie würden aber jubeln, wenn sie plötzlich erschien, denn dort war sie immer willkommen.
Und dann gab es noch John Sinclair und diesen Brief, den sie ihm geschrieben hatte.
Es war einfach aus einer Laune heraus geschehen. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis verspürt, dies zu tun, eben weil sie diesem Mann ein so großes Vertrauen entgegenbrachte, obwohl sie ihn erst wenige Stunden kannte. Aber er hatte ihr zugehört, und das konnten nur
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