Töte, Bajazzo
ersten, die den Wagen verließen. Alles spielte sich dicht vor Mirellas Fenster ab, und sie erlebte, wie die Frauen ihre Kinder und Enkel in die Arme schlossen und so taten, als wären sie die besten Freunde.
Die Sängerin mußte lächeln. Diesen falschen Überschwang gab es also nicht nur in ihrem Job, sondern auch im normalen Leben. Irgendwie fand sie es sogar beruhigend.
Der Zug ruckte an.
Stimmen und Kofferknallen waren auf dem Gang zu hören, doch Mirellas Hoffnung, allein im Abteil bleiben zu können, erfüllte sich.
Acht Stunden ungefähr würde die Fahrt dauern. Die großen Stopps waren vorbei. Nun ging es ohne Aufenthalt durch bis Rom, und wenn niemand zu ihr kam, um so besser. Dann konnte Mirella die Zeit nutzen, um sich zu regenerieren.
An das Bahnfahren und an die damit verbundene Geräuschkulisse hatte sich Mirella Dalera längst gewöhnt. Sie hörte sie kaum mehr, es lag wohl daran, daß sie in der Nacht so schlecht geschlafen hatte.
Konzentration fiel ihr schwer. Es gelang Mirella nicht, die Gedanken auf den Punkt zu bringen, denn sie stellte sich bereits ihren Heimatort vor.
Sie ›sah‹ die Häuser an der Küste, die Berge, das bunte Treiben.
Wenn sie an Maiori dachte, flutete normale Sonne durch ihre Vorstellungskraft. Sonne und Meer, das ideale Bild des Urlaubers von Italien. Nur komisch, daß ihr diese Erinnerung im Moment nicht kommen wollte. Sie schaffte es einfach nicht, sich den Ort so vorzustellen, wie sie ihn in Erinnerung hatte.
Etwas störte sie.
Es konnte an ihrer Dumpfheit liegen, an der Trägheit des Gehirns, aber auch an all den Bildern, die sie immer wieder in ihrem Leben aufnahm.
Nirgendwo war sie richtig heimisch. Ein Gastspiel hier, ein Gastspiel dort, da waren die Städte der Welt und die Hotels nicht mehr als Momentaufnahmen im Bilderalbum des Lebens. Denn eine richtige Heimat hatte sie nicht mehr gefunden. Und die eigentliche lag so weit, sehr weit zurück. Mirella lebte in der anderen Welt. Ihr Geruch war nicht mehr das Salz des Meeres, sondern der der Bühnen, der Schminke in den Garderoben und der des Staubs auf den Brettern, die die Welt bedeuteten.
Hinzu kam die Musik, geschaffen von großartigen und genialen Komponisten. Verdi, Puccini, Donizetti und jetzt Leoncavallo, der Komponist der Oper, die in Mailand aufgeführt werden sollte.
Melodien, die unvergessen waren und blieben. Sie hatte fast alle großen Partien gesungen, und sie wollte in den nächsten Jahren ihr Repertoire erweitern, denn Mozart stand noch auf dem Programm.
Musik. Gesang, Dirigenten, die oft schlimmer als Generäle waren, die einen Künstler in den Himmel, aber auch in die Hölle stoßen konnten und für so manchen Nervenzusammenbruch der Kollegen die Schuld trugen.
Mirella hatte es geschafft, sich dagegen zu wehren. Sie war auch zu gut geworden. Bei gewissen Dirigenten konnte sie den Ton angeben und ihren Kopf durchsetzen.
Es waren nicht nur sie. Hinzu kamen Regisseure wie Carlo Furano. Er gehörte zu den Wilden, zu denen, die immer mit neuen Ideen kamen und sie auch sofort in die Tat umsetzten. Was heute noch stimmte, konnte morgen weggewischt werden. Wenn Furano sich einmal entschlossen hatte, etwas zu verändern, fackelte er nicht lange und setzte es so schnell wie möglich in die Tat um.
Mirella Dalera ärgerte sich selbst darüber, daß ihr die Arbeit nicht aus dem Kopf wollte. Im Abteil war niemand, sie war allein, so wunderbar ungestört und…
Die Musik, der Gesang!
Plötzlich waren ihre Gedanken verschwunden und die Entspannung ebenfalls. Sie setzte sich kerzengerade hin, runzelte die Stirn und überlegte, was das wohl sein könnte.
Eine Melodie, eine Arie, die ihr durch den Kopf wehte, aber nicht aus ihr selbst kam. Sie wurde von einer fremden Stimme gesungen, von einem Tenor.
»Lache, Bajazzo…«
Mirella öffnete den Mund. Sie hatte etwas sagen wollen, es war ihr nicht möglich gewesen. Dieser plötzliche Gesang hatte sie zu sehr durcheinander gebracht.
»Hüll dich in Tand nur und schminke dein Antlitz…«
Sehr deutlich hörte sie den Text. Wie nah er klang, als befände sich der Sänger in ihrem Abteil.
Mirella hob den Kopf an und schaute zur Decke, ohne etwas zu erkennen. Sie drehte sich auf ihrem Sitz, blickte nach rechts und links, dann durch das Fenster, wo Berge eine schroffe Kulisse bildeten und plötzlich von einer tiefen Dunkelheit verschluckt wurden, weil der Zug durch einen Tunnel raste.
Das Herz der Frau schlug schneller. Auf einmal hatte sie Angst.
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