Töte, Bajazzo
Es war im Abteil nicht dunkel geworden, unter der Decke brannte die Notbeleuchtung. Das Wissen, in dieser Röhre eingeschlossen zu sein, ließ ihr Herz schneller schlagen.
Sie blickte nach rechts gegen die Scheibe. Hinter dem Glas huschte die dunkle Tunnel wand vorbei. Es war nichts zu erkennen, doch dann sah sie in Höhe des Fensters, von oben nach unten fallend, den Heck.
Das Gesicht war da!
Mirella hatte den Mund geöffnet, aber der Schrei erstickte schon vor den Lippen. Es war furchtbar, es war keine Einbildung, und es war so enttäuschend, denn sie hatte damit gerechnet, dem Gesicht entkommen zu können.
Der Tunnel war lang, und der Zug raste noch immer hindurch. Die Scheiben waren schallisoliert, und es war nicht allzu laut, dafür tanzte die bleiche Fratze vor dem Fenster.
Sie zeigte sich konturenscharf. Das blasse Gesicht, die schwarzen, traurig verzogenen Brauen über den Augen und die schwarzen Tränen, die an den Wangen entlangliefen. Der von einem Bart umrahmte Mund war geöffnet, als wollte die Gestalt noch während des Weinens Luft holen.
Eigentlich ein sehr trauriges Bild, das einem Menschen keine Angst einzujagen brauchte. Mirella fürchtete sich trotzdem, und sie fror sogar vor Angst.
Lachen und Weinen zugleich. Dieses Gesicht drückte die Urgefühle des Menschen aus, es zeichnete das Leben nach, in dem sich Freude und Trauer abwechselten.
Der Zug rauschte aus dem Tunnel. Weg war das Gesicht!
Mirella hörte sich stöhnen. Sie hob langsam den Arm und wischte mit dem Handrücken über die Augen. Gleichzeitig stand sie auf und merkte, daß sie taumelte. Es lag nicht allein an der Geschwindigkeit des Zuges, Mirella selbst war innerlich zu sehr durcheinander und zerrissen, und sie fürchtete sich schon jetzt vor dem nächsten Tunnel, der unweigerlich kam. Sie schaute zur Abteiltür. Irgend etwas hatte sie gewarnt, und dann zerrte jemand die Tür mit einer heftigen Bewegung auf, so daß Mirella einen leisen Schrei ausstieß.
Es war nur der Schaffner, der breitbeinig vor ihr stand, sie anlächelte und mit höflicher Stimme um den Fahrausweis bat. Mirella reagierte zunächst nicht, der Mann mußte seine Bitte wiederholen, dann erst nickte sie.
»Natürlich, entschuldigen Sie.« Ihre Finger kramten in der Tasche. Sie fanden das breite Portemonnaie. In der Außentasche steckte der Fahrausweis, den sie dem Schaffner reichte.
Er schaute ihn sich an, nickte und gab ihn zurück.
»Sagen Sie, Signore, wie lange dauert es noch, bis wir in Roma ankommen?«
»Knappe zwei Stunden.«
»Danke. Und der Aufenthalt dort…?«
»Zehn Minuten etwa.«
»Sind wir pünktlich?«
Er nickte. »Wir liegen gut in der Zeit und werden Neapel gegen siebzehn Uhr erreichen.«
»Das wollte ich nur wissen.«
»Gute Fahrt noch, Signora.« Er zog sich zurück und schloß die Abteiltür hinter sich.
Mirella Dalera nagte auf der Unterlippe, als sie sich langsam wieder auf den Sitz sinken ließ. Sie spielte mit dem Gedanken, dieses Abteil zu verlassen und dort hinzugehen, wo sich andere Reisende zusammengefunden hatten. Da würde das Gesicht bestimmt nicht erscheinen. Aber war das eine Lösung?
Nein, es war keine. Schon in der Hotelbar, wo sie ebenfalls nicht allein gewesen war, hatte sie das Gesicht im Spiegel gesehen. Es würde sich auch von Zeugen nicht abhalten lassen, denn sein Erscheinen galt ihr, ihr ganz allein.
Mirella war davon ausgegangen, sich in ihr Heimatdorf zurückzuziehen und wohl zu fühlen. Von diesem Gedanken mußte sie sich verabschieden. Da gab es jemand, der sie verfolgte, und sie wußte nicht mal, ob es ein Mensch war oder ein Geist. Vielleicht auch beides.
Vielleicht war eine Oper zur Wahrheit geworden. Wenn ja, würde es in Blut und Tod enden.
Sie fror, obwohl die Heizung lief. Und sie hatte immer mehr den Eindruck, von einer anderen Macht geführt und geleitet zu werden, damit sie einen bestimmten Punkt erreichte.
Auf ihn fuhr sie zu.
Maiori!
Ihr Heimatdorf, denn dort würde und sollte sich ihr Schicksal erfüllen.
Sie hatte Mühe, das Atmen nicht zu vergessen. Hinter der Stirn spürte sie einen harten Druck, der sich auch auf die Augen übertrug.
Kopfschmerzen breiteten sich aus. Das Abteil wurde für sie zu einem Gefängnis, und es steigerte sich noch, als der Zug in den nächsten Tunnel raste.
Sie wollte nicht mehr, sie mußte raus, sie mußte Menschen sehen, raffte die Tasche an sich und verließ das Abteil. Mit langen Schritten eilte sie durch den Wagen, vorbei an den Abteiltüren,
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