Töte, Bajazzo
wenige. Die Künstler jedenfalls nicht, denn da war jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt und dachte nur an sich und seine Karriere.
Auf der anderen Seite hatte sie ebenfalls sehr egoistisch reagiert, als sie den Brief schrieb. Noch jetzt fragte sich die Sängerin, was sie eigentlich damit hatte erreichen wollen, als sie gerade ihm ihre Adresse mitgeteilt hatte.
War nicht damit die Hoffnung verbunden, daß ihr John Sinclair folgte, um sie von dem Fluch zu befreien. Er gefiel ihr auch als Mann und hatte zudem mit dem Operngenre nichts zu tun. Genua, La Spezia, Livorno, Rom und schließlich Neapel, das waren die großen Haltepunkte des Schnellzugs. Immer an der Küste entlang und immer in Richtung Süden.
Noch hatten sie die Poebene nicht verlassen, die für Italien so untypisch war. Die Menschen aus dem Süden mochten die Lombardei nicht besonders, und da machte auch Mirella Dalera keine Ausnahme.
Mailand war ihr zu kalt. Vom Klima und auch von den Menschen her.
Sie schaute aus dem Fenster, sah die flache, graue Landschaft und einen Himmel darüber, der kaum eine andere Farbe zeigte. Der blasse Sonnenfleck versteckte sich hinter den Wolkenschleiern, als schämte er sich, seine Strahlen in die Tiefe zu schicken.
Die Sängerin blieb gedankenversunken auf ihrem Platz. Ihren Mantel hatte sie neben sich über den Sitz gelegt, der Koffer befand sich in der Ablage.
Carlo Furona, der Regisseur, würde um diese Zeit sicherlich schon durchdrehen. Denn er mußte herausgefunden haben, daß seine weibliche Hauptrolle verschwunden war. Mirella war nicht schadenfroh, doch auf eine bestimmte Art und Weise gönnte sie dem Mann die Niederlage, denn zu oft hatte er die Mitwirkenden traktiert und unter seinen Launen leiden lassen. Er war berühmt und berüchtigt für seine Wutanfälle, die sich zwar selten gegen die Stars richteten, die aber auch sie nicht kalt ließen und das Klima vereisten. Es sollte eine Lehre für ihn sein, auch wenn sie eine hohe Strafe zahlen mußte. Bei ihrem Können war sie nun wirklich nicht auf eine Type wie Furano angewiesen.
Ein Schatten fiel über ihren Tisch und riß sie aus ihren Gedanken.
Gegenüber hatte ein Mann Platz genommen, ein typischer Schaumacher und Geck. Er trug ein hellrotes Jackett, das Hemd war strahlend weiß, und die Krawatte zeigte ein wildes buntes Muster. Er lächelte sie an, roch nach Gel und Rasierwasser, und Mirella konnte sich ausmalen, wie er sich vorstellte, sie bereits im Bett zu haben.
»Ist das ein schlechter Tag für eine Reise, Signora. Keine Sonne, kein Licht, aber dann Sie.«
»Was soll das?«
»Sie sind wirklich der Lichtblick hier.«
Mirella leerte ihre Tasse. Zum Glück hatte sie schon bezahlt. Als sie aufstand und ihren Mantel nahm, schaute der Knabe dumm aus der Wäsche und erhob sich ebenfalls halb.
»Sie wollen schon gehen?«
»Ja. Wenn ich der Lichtblick bin, sind Sie der Schatten, Signore. Guten Tag und gute Reise noch.« Sie ließ ihn stehen und eilte mit raschen Schritten davon. So einer wie der hatte ihr noch gefehlt. Sie konnte gut auf irgendwelche Reisebekanntschaften verzichten. Da war sie selbstbewußt genug.
In der ersten Klasse war es nicht sehr voll. Sie hatte das Abteil für sich allein, setzte sich und streckte die Beine aus.
In Genua kriegte sie Gesellschaft. Zwei ältere Frauen stiegen ein, die über ihre verheirateten Kinder herzogen und sich gegenseitig davon berichteten wie undankbar die jungen Leute doch waren.
Mirella hörte nicht hin. Sie schaute durch die Scheibe nach draußen. Im Glas des Fensters malte sich schwach ihr Gesicht ab, und je mehr sie sich von Mailand entfernte, um so stärker wurde auch ihr schlechtes Gewissen entlastet.
An ihre Kollegen dachte sie nicht mehr. Für sie war es wichtig, mit sich selbst zurechtzukommen, alles andere war nur verlorene Zeit. Die Form der Landschaft hatte sich verändert. Sie war gebirgiger geworden, hin und wieder gelang ihr auch ein Blick auf das unendliche Meer, das am Horizont mit dem Himmel eine Einheit bildete.
Sie schloß die Augen.
Der Zug fuhr.
Die beiden Frauen redeten noch immer. Mirella versuchte, das Gerede zu ignorieren. Es machte sich auch bemerkbar, daß sie wenig geschlafen hatte, so forderte die Natur ihr Recht, und Mirella wachte erst auf, als der Zug in Lovorno hielt. Beide Frauen wurden von ihren Kindern in Livorno abgeholt, und als der Zug allmählich in den Bahnhof einrollte, da konnten sie es kaum erwarten, auszusteigen.
Sie waren dann auch die
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