Töte mich - Osborne, J: Töte mich - Kill Me Once
Familie hätte sein sollen. Das war schließlich nur gerecht. Er hatte schon viel zu lange in einem Gefängnis aus Schmerzen gelitten.
* * *
Er steht zwischen den Rüschenkleidchen und den winzigen Pullovern im Schrank des kleinen Mädchens, und durch das offene Schlafzimmerfenster hört er ihr fröhliches Kreischen. Es ist stockdunkel im Kleiderschrank, doch er kann trotzdem deutlich sehen.
Er tastet mit der Hand nach der zweiundzwanziger Pistole, die hinten in seiner Jeans steckt. Das kalte Metall fühlt sich beruhigend an, doch er wird die Waffe nur im äußersten Notfall benutzen. Das lange Schlachtermesser, das er aus dem Holzblock auf ihrem Küchentresen genommen hat, ist der richtige Schlüssel, um den unerträglichen Schmerz aus seiner Vergangenheit freizulassen.
Als sie eine halbe Stunde später ins Haus zurückkehren, ohne etwas von seiner Anwesenheit zu bemerken, bewirken die fröhlichen Geräusche aus dem Wohnzimmer, dass sich seine Nackenhaare aufrichten.
Ist er ihnen denn völlig gleichgültig?
Scheren sie sich denn gar nicht um seinen Schmerz?
Nein , erkennt er schließlich. Es ist ihnen scheißegal .
Und das werden sie schon sehr bald bedauern.
55.
In ihrem Traum ist Dana wieder vier Jahre alt.
Es ist der vierte Juli, und sie und ihre Eltern sind soeben ins Haus gegangen, nachdem sie einen wundervollen Abend beim Picknick in ihrem eigenen Garten verbracht haben.
Dana ist aufgekratzt, weil sie mit einem magischen Funkenstab die Märchenprinzessin spielen durfte, und sie spielt noch eine ganze Stunde länger, bevor die ersten Anzeichen von Müdigkeit in ihren großen blauen Augen erscheinen.
Schließlich kuschelt sie sich im Schoß ihres Vaters zusammen, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt und sich die Nachrichten anschaut. Wie üblich sitzt ihre Mutter am Küchentisch und geht einen großen Stapel Anwaltspost durch, den sie von der Arbeit mit nach Hause gebracht hat. In regelmäßigen Abständen schreibt sie Anmerkungen in den gelben Notizblock, der vor ihr liegt.
Als die Nachrichten zu Ende sind und der Sprecher eine Gute Nacht wünscht, gähnt Dana laut und streckt die Arme über den Kopf.
* * *
»Müde, kleine Prinzessin?«, fragte James Whitestone, wobei er seiner Tochter leicht den Rücken kraulte.
Dana nickte und gähnte erneut. »Hmmm. Ich glaube, ich bin jetzt müde, Daddy.«
Als Sara die Worte ihrer Tochter hörte, erhob sie sich vom Küchentisch, durchquerte das Zimmer und pflückte Dana aus dem Schoß ihres Vaters. »Na, dann gehen wir dir jetzt mal die Zähne putzen und machen dich fertig fürs Bett, Prinzesschen. Und dann decke ich dich zu und lese dir eine Gutenachtgeschichte vor. Was sagst du dazu?«
»Au ja! Aber müssen wir schon wieder meine Zähne putzen, Mami? Das haben wir doch heute Morgen erst gemacht, und sie sind immer noch sauber!«
Sara lachte und küsste ihre Tochter. »Du musst die Zähne noch einmal putzen, Dummerchen, damit Karius und Baktus keine neuen Häuser in deinen Zähnen bauen, während du schläfst.«
Dana kicherte und wand sich in den Armen ihrer Mutter. »Hör auf, das kitzelt!«
Als sie im Badezimmer fertig waren, brachte Sara ihre Tochter zu Bett. Sie schlug die Decke zurück und schlang sie um den kleinen Körper des Kindes. »Was sollen wir heute Abend denn lesen, Prinzessin?«, fragte sie.
Dana verzog in angestrengtem Nachdenken das kleine Gesicht. Wichtige Entscheidungen waren zu treffen. »Hmmm. Wie wär’s, wenn wir noch mal die Geschichte von Dana und ihren drei Freunden spielen?«
Sara lächelte. Dana und ihre Freunde war ihre private Version von Goldlöckchen und die drei Bären . Im Lauf der Zeit – und durch Danas kluge Bemerkungen – veränderte die Geschichte sich mit jedem Erzählen ein wenig mehr.
Sie schaltete die Deckenbeleuchtung aus, sodass nur noch der schwache gelbe Lichtschein von Danas Nachttischlampe blieb. Dann räusperte sie sich dramatisch und begann mit der aktuellen Version der Geschichte.
»Es waren einmal drei Bären, die hießen Mrs. Lula, Mr. Sunday und ihr wunderschönes Baby, der süße Pano. Die drei wohnten in einem schönen kleinen Haus tief im Wald und genossen ihr friedliches Leben.«
»Gar nicht!«, rief Dana. »Das stimmt nicht! Sie wohnen jetzt in einem Lebkuchenhaus! Sie sind vorige Woche umgezogen.«
Sara lachte und kitzelte ihre Tochter am Bauch. »Okay, du Schlaubergerin. Sie sind letzte Woche umgezogen. Ich denke, damit kann ich leben. Die drei Bären wohnten also in
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