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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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wir geahnt hatten, dass unsere Verhaftung nur eine Frage der Zeit war?
    Wir lebten gegen die Wirklichkeit, gegen die Norm und bar jeder Vernunft. Während jüdische Nachbarn von heute auf Morgen verschwanden und das Wort Theresienstadt geflüstert zwischen uns die Runde machte, gingen wir tanzen. Schlichen uns über den Hintereingang in illegal geführte Ballsäle und taten für einen Abend so, als würde es die Welt draußen nicht geben. Die uns endlich mit deutschen Männern verheiratet sehen wollte, damit wir dem Führer Kinder schenken. Wir versteckten unsere Liebe, doch unser Anderssein ließ sich auch durch lange Haare und schickliche Röcke nicht verbergen. Vielleicht hätte uns mehr Maskierung gerettet. Freundinnen von uns heirateten homosexuelle Freunde, um nicht aufzufallen, oder übernachteten nicht zusammen. Ich hielt das für übertrieben, und tief in meinem Herzen schäme ich mich noch heute für den Grund: Ich fühlte mich deutsch, ich war arisch, und ich war naiv genug zu glauben, dass mich meine Herkunft schützen würde. Meinem Vater war ich entkommen, der Front war ich entkommen, doch der deutschen Moral entkam ich nicht. Es war die Frau des Hauswarts, der Helene verdächtig war und die uns verriet, die dafür sorgte, dass wir in flagranti erwischt wurden.
    „Ich sah Helene das letzte Mal, wie sie sich unter den tumben Augen der Gestapo anzog.“
    Man kann sich das nicht vorstellen. Der Mensch, den man liebt, dem Teufel ausgeliefert, die nackte Angst auf der Haut. Und sie, die Anmutige, tat das einzig Richtige. Etwas, worüber wir zuvor nie gesprochen hatten, worum ich sie unendlich oft beneidet habe. Ihre Schuhe standen unter dem geöffneten Fenster. Sie bückte sich, warf mir einen letzten Blick zu, schnellte in die Höhe und stürzte sich aus dem vierten Stock in die Tiefe.
    „Wie konntest du weiterleben?“
    Ganz einfach, mein Junge: Sie ließen mich nicht sterben.

Mittwochmittag
    Er stieg aus dem Bus und sah auf die Uhr. Eine Viertelstunde zu früh. Ben Mangold lief auf das größte der drei Gebäude zu und bog vor dem Eingang in die Gartenanlage ab, die den ganzen Firmenkomplex umgab. Viele Mitarbeiter aus den umliegenden Büros verbrachten ihre Mittagspause hier, saßen auf Bänken in der Sonne oder unter Schatten spendenden Pergolas, tranken Kaffee, hatten Erfrischungsgetränke neben sich stehen, einige aßen Baguettes, die es der Verpackung nach wohl in der Cafeteria geben musste.
    Ben hatte Hunger. Außer einer Pizza hatte er seit dem Vortag nichts mehr gegessen. Überhaupt war sämtlicher geregelter Alltag zusammengebrochen, bei ihm zu Hause herrschte Ausnahmezustand. Sein Vater saß stumm herum, als ob er darauf wartete, dass der Tod endlich persönlich an der Haustür klingeln würde, um auch ihn abzuholen, und Sara kam aus ihrem Zimmer nur noch heraus, um ins Badezimmer zu gehen. Er hatte es schon gestern nicht mehr drinnen ausgehalten, war den ganzen Tag unterwegs gewesen, lenkte sich ab, so gut er konnte. Weder seinem Vater noch seiner Schwester konnte er helfen, er wusste nicht, wie er sie hätte trösten sollen. Was geschehen war, war geschehen und es schien, als ob er der Einzige war, der diesen Umstand begriff.
    Er setzte sich auf einen Mauervorsprung in die Sonne und versuchte die Gedanken abzuwehren, die in ihm hochstiegen. Eine Mischung aus Schuldgefühl und Angst, der bittere Geschmack von schlechtem Gewissen breitete sich beharrlich in ihm aus, so sehr er sich auch bemühte, in seinem Kopf die Dinge zurechtzurücken.
    Nach vorne schauen, sagte er sich wie ein Mantra vor, nach vorne schauen und nicht zurück.
    Doch wenn er das wirklich tat, was machte er dann hier? Das letzte bisschen Zukunft zunichte? Er bückte sich und griff nach seinem Rucksack zwischen seinen Füßen. Das Sicherheitspersonal, das in der Grünanlage auf und ab spazierte, als ob es zwischen den friedlich Pause machenden Angestellten nach Terroristen Ausschau hielt, hätte seine wahre Freude an dem Inhalt gehabt, und für einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob man ihn später am Eingang kontrollieren würde. Niemand konnte ihn dazu zwingen, Einblick in seine Taschen zu gewähren. Dann würde er eben unverrichteter Dinge wieder gehen.
    Ben hatte sich diesen Moment, in dem er ihm hier gegenüberstehen würde, genau überlegt. Nichts würde er sagen. Nur dastehen wollte er. So lange, bis der andere das Wort ergreifen müsste. Der andere, der durch seine bloße Existenz alles durcheinandergebracht

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