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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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seine Überführung nach Chile samt Beerdigungskosten decken würde. Er wollte seiner Mutter auf keinen Fall Kummer und Sorge bereiten.
    Madre , flüsterte er, ayúdame .
    Doch seine Mutter in Santiago ahnte nicht, wo er war. Ebenso wenig wie Sandra, die bestimmt inzwischen erfahren hatte, dass die Polizei nach ihm suchte, und bereits in einem Flieger nach Berlin saß.
    In seinen Augen hatte man ihn verlassen.
    Dios , dachte er.
    Wie sollte er sich ausgerechnet jetzt an einen Gott wenden, zu dem zu beten er immer anderen überlassen hatte? Er, Estebán Valero, hatte es immer ohne göttliche Hilfe geschafft, aus eigener Kraft. Das hier konnte einfach nicht wahr sein. Es passte nicht zu ihm und seinem Leben, gehörte in ein Drehbuch, Hollywood für Adrenalinsüchtige. Diese Dinge geschahen doch nicht wirklich mitten in einer europäischen, zivilisierten Stadt. Es musste doch jemand sein Verschwinden bemerkt haben. Sich wundern. Sandra, seine Arbeitskollegen, irgendwer! Oder war das die Quittung dafür, dass er kam und ging, wie und wann er wollte, sich keine Vorschriften machen ließ und glaubte, auf nichts und niemanden angewiesen zu sein?
    „Meine Kreditkarte ist das einzige, was ich brauche.“
    Er hörte sich reden, er sah sich grinsen, er schämte sich.
    Sollten dies die Momente der Bekehrung sein? Lag irgendwo für ihn ein Wunder bereit und er musste bloß über seinen Schatten springen und glauben? Um Erlösung bitten?
    Über welchen Schatten, dachte er bitter, wo es doch kein Licht mehr gibt.
    Er war erschöpft, hatte Durst, hatte Hunger, ihm war heiß. Die Furcht trat aus allen Körperöffnungen aus, Estebán Valero hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Obwohl er wusste, dass er jetzt auf keinen Fall Flssigkeit verlieren durfte, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Er weinte und je länger er weinte, umso verzweifelter wurde sein Klagen. Mit dem ersten großen Schluchzen füllten sich seine Lungen weit, und beim nächsten Einatmen merkte er, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde.

Achtzehn
    Mit der Vergänglichkeit zog das Leben bei mir ein und mit dem Leben der Tod. Dazwischen all die menschlichen Facetten von Güte bis Niedertracht. Grausames hatte ich in so vielen Gesichtern gesehen: den Hass wütender Verlierer, den Sadismus verängstigter Feiglinge, die Verachtung Herzloser. Doch als Udo Erdmann und Jürgen Knapp vor meinen Augen Hannes zu ihrem Spaß erniedrigten, sah ich etwas, das mir bis dahin erspart geblieben war: das Leuchten in den Augen eines schönen Gesichts, eine beinah zärtliche Hand am Auslöser eines Fotoapparates und ein fröhliches Lachen mitten ins Herz. Ich sah die Unschuld sich die Hände schmutzig machen, ohne Spuren zu hinterlassen. Nichts anderes als diese unfassbare Ungerechtigkeit nahm Hannes den Glauben an das Leben und mir den Anstand.
    Jeder Augenblick danach war besudelt von der Gewissheit, dass die Unmenschlichkeit keine Ausnahmeerscheinung ist, sondern in uns allen wohnt. Sie lauert hinter der Fassade guter Erziehung und falscher Nächstenliebe, sie wuchert wie ein Krebsgeschwür in unserem Innern, sie ist ein wildes Tier, das sich vielleicht nur mit Liebe zähmen lässt. Doch auch die Liebe ist nicht allmächtig, und auf verbrannter Erde wurzelt sie schlecht. Ich war lange schon nicht mehr empfänglich für sie. Mitgefühl für meine Kranken und diese mich so unerwartet überkommende Zärtlichkeit für einen chancenlosen Außenseiter – zu mehr war ich nicht in der Lage. Und es mag sein, dass sich deshalb der Hass und die tiefe Sehnsucht nach Rache in mir festsetzten und mich am Leben erhielten. Denn an diesem Nachmittag hatte mich das Böse angesteckt.
    Was auch immer ich seither getan habe, es hatte den giftigen Beigeschmack von Wut. Von dem schmutzigen Geld, das ich für das verfluchte Haus bekam, kaufte ich ein winziges Apartment, das ich gelb streichen ließ und mit hellen Möbeln einrichtete. Doch die Erinnerung wirft bis heute lange Schatten, und ich glaube dem Süden die Sonne nicht mehr. Die letzten zwanzig Jahre habe ich in meiner warmen Wohnung gefroren und gelesen. Ich weiß jetzt viel über die Geschichte dieses Landes und die Zeit, die man die dunkelste in Deutschland nennt. 1995 bin ich sogar zu einer Gedenkfeier anlässlich der Befreiung nach Ravensbrück gefahren. Man hatte ehemalige Häftlinge dazu eingeladen, ich hatte nicht darauf geantwortet. Ich wollte nicht als ehemals Asoziale gesehen werden und mich nicht als Homosexuelle zur Schau

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