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lagen Abend für Abend wohlproportionierte junge Menschen auf ihren Terrassen und gönnten ihren Körpern die Strahlen der untergehenden Sonne.
Einige davon kannte Melissa.
Man war in der Medienbranche tätig, hatte keine Familie und keine Lust auf anstrengende Beziehungen. Untereinander blieben Kontakte unkompliziert, solange die Koordinaten stimmten: Gleiche Einkommensgruppe, gleiche Schönheitsideale, gleiche Makellosigkeit. Mit weniger Privilegierten gab man sich nicht ab. Nur Gleichheit garantierte Zufriedenheit.
Sie breitete ein beiges Handtuch auf ihrem Deckchair aus, legte sich hinein und schloss die Augen. Einen klitzekleinen Moment lang kostete sie den verwegenen Gedanken aus, Nikolaus Holzwangers Frau und damit die Mutter seiner vier Kinder zu sein. An Tagen wie diesen, wo das Wetter förmlich nach einer Grillparty mit lautem Kindergelächter schrie, konnte sie diese Vorstellung nur schwer unterdrücken. Doch haftete der Idee etwas vom wohligen Grausen einer Geisterbahnfahrt kurz vor der nächsten Station an. Dann fuhr der Waggon um die Ecke, wo Unheil lauerte: OP – Tisch, Geburt eins, zwo, drei, einmal Kaiserschnitt, die Zwillinge, lautes Kreischen, Schmerzen, Ohnmacht, Blut.
Dennoch kamen diese Traumbilder nicht von ungefähr. Melissa konnte gar nicht sagen, wie sehr sie sich über ihren sechs Wochen zurückliegenden Fehltritt ärgerte! Gut, die Sache hatte sich außerhalb Hamburgs zugetragen, und den Betreffenden konnte sie mit einem Fingerschnipsen aus der Firma entfernen lassen. Er war nur eine studentische Aushilfskraft. Aber ungeschützter Sex innerhalb der Firma – so blöde musste man erst mal sein!
Dabei war sie nicht mal ihrer Einsamkeit erlegen, sondern von überschäumend guter Laune verführt worden. Nach einem ergebnisreichen Meeting im Münchner Büro war plötzlich dieser unverschämt gut durchtrainierte Körper direkt vor ihrer Nase aus dem Boden gewachsen, und Melissa hatte ihm in einem Anflug von Größenwahn befohlen, sie ins Hotel zu chauffieren. So hatten ihre Worte wirklich geklungen: »Chauffieren Sie mich in den Bayrischen Hof!«
Wie eine Hollywooddiva.
Eine Hollywooddiva musste sich zu Hause allerdings nicht mit zwei Angorakaninchen begnügen. Dort, wo selbst zur Mittagszeit die Sonne nicht hinkam, zwischen Terrassentür und Nachbarapartment, bewohnten Emma und Lotta einen geräumigen Käfig. Die Existenz ihrer beiden Kaninchendamen hielt Melissa Stockdale vor ihren Untergebenen geheim. Sie wollte nicht als noch kindischer gelten, schließlich galt sie im Büro ohnehin schon als kindliches Gemüt.
Melissa stand auf, schob die Glastür zur Wohnung zu, damit die Tiere nicht ins Innere hoppeln konnten, und setzte Emma auf die warmen Holzbohlen der Terrasse. Dann hob sie Lotta aus dem Käfig, trug sie zum Deckchair hinüber und vergrub ihr Gesicht ins weiche Kaninchenfell.
Nur eine Minute.
Ausruhen war etwas für Schwächlinge.
Mit einem kräftigen Schubs verstieß sie das Kaninchen wieder von ihrem Schoß. Der Sonnenstand hätte noch eine halbe Stunde Bräunung garantiert, doch wer würde ihren Körper schon zu Gesicht bekommen? So schnell niemand mehr.
Melissa stapfte in ihr Apartment, schlüpfte in ein T-Shirt und bürstete sich die Haare. Seit Tagen schob sie die dumme Videobotschaft vor sich her, die sie für den Pool präparieren wollte.
Nein, die Botschaft war nicht dumm.
Sie war nur unangenehm.
So unangenehm wie ein Testament, das man in ihrem Alter auch nicht machte. Als Melissa sich vor ihr MacBook setzte und den kalten Schreibtischstuhl unter der nackten Haut spürte, flackerte die Erinnerung an die Münchner Nacht erneut auf. Es kribbelte angenehm.
Plötzlich ertönte aus dem Badezimmer ein hohes Piepsen.
Der Timer!
Melissa rannte ins Bad und brauchte nur eine Sekunde, um das Ergebnis des Schwangerschaftstests zu begreifen. Angst überflutete sie. Sie biss sich auf die Unterlippe. Abtreibungen waren keine Hexerei. Warum sollte sie diesmal damit zögern? Nur weil er eigentlich ein netter Kerl war?
Jetzt war Melissas Stimmung so abgesackt, dass es für die Videobotschaft genau passte. Sie setzte sich wieder vor den Computer und hätte auch ganz nackt sein können, ohne die geringste Verführung auszustrahlen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerne sage, was ich jetzt sage«, begann sie umständlich, »aber wir haben eine Grenze überschritten.«
Sie fühlte sich alleingelassen.
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Haselmarsch
Mittwoch, 7. Juli, 19 :
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