Toggle
kreiste. Aber der Gründer von Myface war für seine Ruppigkeit berühmt. Man sagte ihm nach, dass er sich für den größten Programmierer aller Zeiten hielt, obwohl ihn viele aus seinem Umfeld des Ideenklaus bezichtigten.
»Ein reicher Mann ist ein armer Mann mit viel Geld«, philosophierte der Oligarch. »Wer diese Weisheit nicht beherzigt, wird irgendwann nur noch ein armer Mann sein.«
»Denen ist doch allen hier ihr Geld zu Kopf gestiegen«, meinte Urs-Albert Flüeli verächtlich. »Und wofür kriegen sie ihre Millionen? Für primitive Internetspielereien.«
»Wir wollen nicht ungerecht sein«, widersprach der Oligarch. »In Russland ist sehr viel mehr Leuten ihr Geld zu Kopf gestiegen. Prozentual gesehen schneiden die Amerikaner dabei noch gut ab.« Er sah auf die Uhr. »Wir werden in genau 30 Minuten wieder abheben, wenn uns bis dahin niemand aufgelesen hat. Dann ändern sich unsere Pläne.«
»Nicht aber unsere Ziele!«
»Ziele ändern sich nur, wenn man das selbst anstrebt.«
Nach 28 Minuten fuhr ein wuchtiger schwarzer Cadillac Escalade vor und lud die beiden Geschäftsleute ein. Dem farbigen Chauffeur war offensichtlich nicht gesagt worden, er solle sich entschuldigen, und der Oligarch verzieh ihm in gleicher Weise, wie er allen Angestellten kleine Fehler nachsah. Doch seinem Gastgeber konnteer das schlechte Benehmen nicht durchgehen lassen. Angemessene Umgangsformen gegenüber Milliardären erforderten ein Minimum an Hellseherei. Dass die Gulfstream G550 durchgängig Rückenwind gehabt hatte und deswegen etwas früher gelandet war, musste man einfach wissen. Es ließ sich den Wetterdaten entnehmen. Unwissenheit bewies Machtlosigkeit, und Unwissenheit in einem Internet-Startup stellte eine absurde Steigerungsform von Ohnmacht dar.
»Wie werden es die Amerikaner aufnehmen, wenn Myface russisch wird?«, fragte Flüeli.
Der Oligarch zuckte mit den Schultern: »Eindeutigkeiten zu vermeiden ist die größte Kunst des gelungenen Geschäfts.«
Wie sehr er sie beherrschte, bewies schon diese Antwort.
[Menü]
Sechster Teil
Kryptoi philoi
[Menü]
85
Washington D. C.
Sonntag, 2. August, 9 : 00
Seit den Tagen des Kalten Kriegs, als Harry S. Truman das 33. Präsidentenamt der Vereinigten Staaten ausübte, bekam der mächtigste Mann der westlichen Welt allmorgendlich den PDB serviert, den President’s Daily Brief , ein maximal doppelseitiges Bulletin des Director of National Intelligence. Selten musste sich ein Präsident deswegen beim Kaffee verschlucken, denn wie allen Ritualen wohnte dem PDB die Tendenz zur Verflachung inne. Was an jedem Tag eines jeden Jahres erschien, konnte trotz seiner Klassifikation als sensibelstes Regierungsdokument der USA nicht ständig Sensationen enthalten. Immerhin hatte sich, da russische Aktivitäten nur noch jedes achte bis zehnte Briefing bestimmten, die Wahrnehmung des amtierenden Präsidenten so weit verschoben, dass er an diesem Sonntag über einen bestimmten Satz im ansonsten gähnend langweiligen PDB stolperte. Pflichtgemäß harrte der Stellvertreter des urlaubenden CIA – Chefs in der Lobby aus, um auftauchende Fragen zu beantworten. Der Präsident ließ ihn hereinbitten.
»Was bedeutet: ›My face jetzt in russischer Hand‹? Wessen Gesicht? In wessen Hand? Inwiefern ist das relevant für uns?«
Der Stellvertreter errötete: »Oh, Verzeihung, Sir, da hat sich wohl ein Leerzeichen eingeschlichen. Es heißt Myface. Ein Wort.«
Der Präsident musterte den Beflissenheit ausströmenden Regierungsdirektor, der in Wirklichkeit einer jener stromlinienförmigen Karrieristen der gegnerischen Partei war, die er vom Vorgänger geerbt hatte. Er genoss das Katz-und-Maus-Spiel mit ihm. Demonstrativ unwissend runzelte er die Stirn. Die Maus sah sich zu einer Erklärung genötigt.
»Ein Internetnetzwerk, Sir! Sie geben darauf täglich kurze Statusmeldungen über Ihre Regierung und Ihr Privatleben ab.«
»Tue ich das?«
Der Präsident wusste sehr genau, was seine Myface-Seite verkündete. Sein halber Wahlkampf war darüber gelaufen.
»Mit großem Erfolg, Sir! Zum heutigen Tage haben sich 20 776 613 Menschen zu Ihren Freunden erklärt. Sie selbst sind natürlich auch Fan einiger Seiten. Von zwölf Seiten, um genau zu sein, darunter die Ihrer Frau.« Der Mann war in seinem Übereifer kaum zu bremsen. »Sie hat zum heutigen Tage 4 931 930 Anhänger. Die Differenz ist nicht ungewöhnlich. Beunruhigend wäre es nur, wenn die First Lady den
Weitere Kostenlose Bücher