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Mellau
Mittwoch, 5. August, 21 : 00
– Unter uns ist einer, der sich erklären muss.
– Oh, ich bin zwar ein neues Gesicht, aber kein Neuzugang.
– Legitimiert wodurch?
– Lassen Sie mich an die Beschlüsse der Bruderschaft vom 11. Januar 1918 erinnern, wonach sämtliche russischen Mitglieder zum Schutz vor Übergriffen anonymisiert werden sollten. Meine persönliche Aufnahme fiel ins Jahr 1976, als der Kalte Krieg jegliche Offenheit hinter dem Eisernen Vorhang verbat. Aber ich habe etwas mitgebracht.
– My God, was ist das?
– Unfassbar!
– Ich denke, das Unfehlbare System war ein Einzelexemplar!
– Die regulären Druckbögen sind verschollen, ja. Nicht aber der Bürstenabzug, der in der Offizin Raimondi für die Zensur beiseitegelegt wurde. Diesen hat mein Obergroßvater aufgespürt und aufgekauft. Seit mehr als 200 Jahren wandert er vom Vater zum Sohn. Bedauerlicherweise habe ich keinen Sohn, weswegen ich ihn hiermit der Bruderschaft übergebe.
– Kann unser Neuzugang als legitimiert gelten, ja oder nein?
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Eine Stimme schweigt dazu, doch ich schließe mich vorbehaltlos an. Womit nach unseren Statuten allerdings Handlungsbedarf entsteht: So wie unser Körper nie weniger als 1000 Köpfe zählen soll, darf unser Kopf nie mehr als die acht Häupter der Gründungsversammlung umfassen. Wir aber sind neun.
– Einer zu viel!
– Messerscharf gefolgert! Doch wer sollte das sein?
– Was gibt es da zu rätseln? Fürs höchste Gremium qualifiziert man sich durch Leistungen im geistigen Wettstreit. Da unser Neuzugang …
– Pardon: kein Neuzugang! Lediglich eine Offenlegung.
– Das ist doch Wortklauberei! Er wird auf keine Meriten verweisen können, weil er sich nirgendwo kenntlich machen konnte.
– Zweifellos richtig.
– Sehen Sie? Er gesteht es sogar ein!
– Zweifellos richtig, aber auch ungerecht. Wozu haben wir uns hier versammelt? Um ein gerechtes Bewertungssystem aus der Taufe zu heben. Ich schlage daher vor, dass wir den Kopf von The Thousend nach den Werten bei Toggle Democracy bestimmen. Der niedrigste Punktwert scheidet aus der Leitung aus.
– Das scheint mir vernünftig.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Ja.
– Keineswegs!
– Keineswegs?
– Ich berufe mich auf Galianis letztes Werk Das Recht der Neutralität und sage: Indem ich die Herausforderung dieses russischen Herrn hier nicht annehme, verhalte ich mich neutral und kann Sitz und Stimme auch nicht einbüßen. Ich begebe mich nicht auf das von ihm eröffnete Schlachtfeld.
Alle Köpfe drehten sich zu Reimar Dijkerhoff um. Alexandre Ranchin sah seinen Kollegen erzürnt an. An der Schwelle zu einem neuen Zeitalter auf Neutralität zu pochen – so etwas konnte nur einem Deutschen einfallen! Der Franzose schäumte.
– Das Recht der Neutralität war eine bloße Verpackung in unserem Plan! Es hat keinerlei Bezug zu dem, was wir gleich verhandeln werden.
– Nein? Es enthält immerhin viele von Galiani formulierte Regeln. Kann man ein Regelwerk über die Maßen bewundern und zugleich ein späteres desselben Autors missachten? Üblicherweise werden in späteren Werken frühere entkräftet.
– Kein Streit bitte, wir nehmen den Einspruch ernst! Wenn Professor Dijkerhoff betont …
– Mon dieu, so etwas darf man nicht ernst nehmen!
– … wenn Professor Dijkerhoff sein Recht auf eine neutrale Position betont, verzichtet er damit automatisch auf sein Stimmgewicht.Neutralität heißt Stimmlosigkeit. Damit fällt die überzählige Nummer 9 ihm selbst zu, weil er keinerlei Einfluss mehr auf die Geschicke der Bruderschaft nehmen will. Ich danke für die langjährige Teilnahme. Vergessen Sie nie unser Verschwiegenheitsgebot.
– Aber ich bin der Einzige hier, der die bevorstehende elementare Entscheidung in ihren Folgen geistig durchdringen kann!
– Verlassen Sie jetzt den Raum.
– Umgekehrt! Wer ist dieser Kerl, dieser undurchsichtige Moskowiter, dass er hier wie Moira aus dem Nichts erscheinen und unsere Strukturen handstreichartig …
– VERLASSEN SIE DEN RAUM !
…
– Wenden wir uns nun dem eigentlichen Zweck unserer Zusammenkunft zu. Es gibt wichtige Dinge zu beschließen.
Das Hotel war jetzt ausschließlich mit Feriengästen belegt, und Pia fand es quirliger als die Woche zuvor. Dutzende von Kindern rannten in dieser lauen Sommernacht über die Wiesen, und aus den langen Hotelfluren
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