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Myface-Daten anfüttern, erhalten wir nicht nur ein Instrument zur Verbesserung von Abstimmungen, sondern ersetzen die Demokratie mitsamt ihrer unschönen Marktwirtschaft gleich ganz. Dann muss eine 94-jährige Kommunistin ihren unanständig reichen Sohn nicht länger abkanzeln, weil er trotz seines guten Willens nichts zur Verbesserung der Welt beiträgt.«
»Wie putzig, ein Hightech-Lenin«, raunzte plötzlich Reimar Dijkerhoff aus seiner Ecke. »Aber der Kommunismus scheitert immer daran, dass die Lager zu klein sind, um all seine Gegner aufzunehmen.«
»Myface hat keine Gegner«, versicherte der Oligarch sanft. »Es kennt nur Teilnehmer und Außenstehende. Die Außenstehenden sagen, dass sie Myface nicht brauchen. Nun gut … die Myface-Nutzer antworten: ›Wir brauchen euch nicht!‹ Man kann ziemlich exakt sagen, wann die Außenstehenden ihre Haltung zu bereuen beginnen. Nämlich ab dem Punkt, wo sie deutlich in die Minderheit geraten. Dann setzt ein noch größerer Ansturm aufs Netzwerk ein, bis schließlich nur noch eine winzige Minderheit übrig bleibt, die der sozialen Vernetzung widersteht, weil sie auch sonst zu niemandem Kontakt pflegt.«
Er lächelte milde.
»Allerdings benutzt diese Minderheit bis heute Geld, um sich aus ihren sozialen Zwängen zu lösen. Statt mit anderen mühselig auszuhandeln, was ihnen zustehen könnte, bezahlen sie anonym mit Dollar, Rubel, Euro, Yen. Geld hält einem die Menschen vom Leib – wer wüsste das nicht besser als ein Oligarch? Aber wenn man sich die Menschen vom Leib hält, wird man auch unempfindlich für die eigenen Verpflichtungen. Selbst wir Superreichen sind durch ein unauflösliches Band mit den Armen verknüpft, wir können uns unsere luxuriöse Blindheit nur scheinbar erkaufen.«
Irgendwo draußen im Dunkel des Hochsommerabends blinkte ein Licht auf. Niemand außer Pia nahm es wahr. Wenn sie es richtig deutete, musste es vom Tanzsaal her kommen. Das Blinken war rhythmisch und arhythmisch zugleich.
»Nun stellen Sie sich eine Welt vor, in der das Geld durch den Wert der Person ersetzt wird«, fuhr Fünfgeld fort. »Keine Verteilung knapper Güter – weder von Aufmerksamkeit noch von Waren noch von Dienstleistungen noch von medizinischer Hilfe, was auch immer – erfolgt mehr nach individueller Finanzkraft, sondern ausschließlich nach dem Menschenwertprofil im Netzwerk. Geiz, Sparsamkeit, Spekulationsgier, Diebstahl – alles verliert seinen Sinn! Man kann nichts mehr ansparen, nichts mehr horten, nichts für sich privat vereinnahmen! Denn der Wert des Menschen ist immer nur aktuell gültig und berechnet sich aus vorangegangenen Taten, Freundschaften, Äußerungen, Großzügigkeit, Opferbereitschaft … was immer die Gemeinschaft für wichtig hält.«
»Beschissen!«, schüttelte es Dijkerhoff förmlich. »Abgrundtief beschissener Opportunismus.«
»Mamutschka würde es gefallen«, widersprach der Oligarch. »Spricht aus ihr nicht die Weisheit des Alters, wenn sie sagt, dass gute Ideen nie sterben? Man musste nur auf die richtige Technologie warten. Kommunismus ist Oligarchenmacht plus Digitalisierung.«
In diesem Moment löste sich ein Schuss aus Flüelis russischer Pistole, weil der Sekretär zu leichtsinnig mit seiner Waffe herumgespielt hatte. Das Projektil durchschlug von hinten das abgestellte WTC – Poster und ließ dessen Verglasung ploppend zerplatzen.
»So vollzieht sich die Konversion des amerikanischen Traums in den russischen«, kommentierte Jewgenij Jacob Fünfgeld. »Ironischerweise von zwei US – Konzernen eingeleitet. Flüeli, dafür bezahlen Sie aber!«
Pia war kurz zusammengezuckt, hatte sich jedoch sogleich wieder dem Fenster zugewandt. Ihr Talent zur Mustererkennung ließ sie zuweilen Nachrichten entdecken, wo es keine gab. Steckte Kingfish hinter dem Blinken? Hoffte er, sie beherrsche das Morsealphabet?
»Sie versteht keine Morsezeichen«, sagte Nikolaus Holzwanger.
»Ich kann auch nicht morsen«, knurrte Kingfish. »Aber deine Frau ist ein Superhirn, also muss sie einen Trivialcode knacken können. Ich versuche, ihn nicht zu schwer zu machen.«
Die beiden Männer standen an der nördlichen Sprossenfensterwand des Tanzsaals. Von dort aus hatten sie einen guten Blick hinüber zur oberen Bibliothek. Einen fast zu guten! Denn die Silhouette des Schweizers mit seiner Waffe signalisierte ihnen, dass sie sich nicht länger in einer intellektuellen Auseinandersetzung befanden. Was der Mann da vorhatte, wussten sie nicht.
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