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Titel: Toggle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Felix Weyh
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Hinweise aus diesem Ein-Prozent-Bereich hätte verstehen können, weil ihm der Wissenshorizont seiner Zeit dies verwehrt hätte. Stellen Sie sich vor, jemand hätte das Rad erfunden, bevor die Achse da war – eine ins Leere schießende Entwicklung!«
    Reimar Dijkerhoff, der sich bislang lässig auf seinem Stuhl gefläzt hatte, richtete sich auf: »Grob gesprochen, berühren wir hier das Problem der Wahrheitsfähigkeit«, erklärte er. »Bei wissenschaftlichen Neuerungen genügt es nicht, die Wahrheit zu entdecken. Sie muss auch in den Kontext der Menschen passen. Ist das Fenster der Wahrheitsfähigkeit geschlossen, wird die Wahrheit ignoriert oder bekämpft.«
    »Und welche Wahrheit könnte das sein?« Nikolaus Holzwanger fand die Diskussion spannend.
    »Genau das ahnen wir nicht einmal«, sagte John Frigg gereizt. »Das ist doch unser Dilemma.«
    »Zum Beispiel eine theologische«, widersprach Grigori Blavatnik und deutete auf den einzigen leer gebliebenen Platz des Podiums. »Es ist doch kein Wunder, dass uns der Heilige Stuhl im Stich lässt. Toggle Books wird die eine oder andere Religion zum Einsturz bringen. Enthüllungen über fatale Fehltritte der Propheten sind nun wirklich nicht schwer vorherzusagen. Vielleicht erhalten wir Physiker darüber hinaus ein paar hübsche neue Gedanken zum Urknall. Und natürlich bekommt die Evolutionstheorie ihren Knacks ab.«
    »Oder wir entdecken, dass Marx ein spielsüchtiger Manchesterkapitalist war«, warf Peter Goodrick-Clarke trocken ein. »Jeder hat da seine eigenen Entlarvungsfantasien. Aber das trifft nicht den Kern der Sache.«
    In diesem Moment zerriss ein ohrbetäubendes Kreischen aus den Lautsprechern die konzentrierte Stille im Saal. Auf der Leinwand an der Stirnseite flackerte kurz die überdimensionierte Internetsuchmaske von Toggle auf. Der Techniker am Regiepult wurde knallrot im Gesicht und tauchte unverzüglich ins Kabelgewirr unterm Tisch ab. Das Kreischen erstarb.
    »Es scheint, als wäre ich der Einzige, der diese Buchsuche für äußerst gefährlich hält«, fuhr Goodrick-Clarke fort. »Aber nicht, weil sie ein vergessenes Werk ans Licht befördern könnte. Das sind Kinderängste! Sondern weil sie die seit Jahrhunderten gebahnten Flussbetten unserer Wissensströme aufweicht.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte der Moderator.
    »Wir verlieren das Gefühl für Veralterung, Überholung, falsches Wissen«, erläuterte der Nobelpreisträger. »Die aufeinander aufbauende Kausalität des wissenschaftlichen Fortschritts löst sich in immerwährende digitale Gleichzeitigkeit auf. Alles – auch längst Abgelegtes! – wird ähnlich plausibel. Man sieht Daten nicht an, wie alt sie sind. Büchern schon.«
    Der Informatiker Joachim Sterzel nickte bestätigend.
    »Vor allem für junge Menschen ist das eine verheerende Entwicklung. Sie werden nicht mehr wissen, wie man Richtiges von Falschem unterscheidet. Sie kennen keine Kriterien mehr. Ich beobachte das schon jetzt an meinen Studenten. Bei ihnen feiert die Irrationalität Triumphe wie im Mittelalter.«
    »Was die Studenten betrifft, stimme ich Ihnen zu.« Alexandre Ranchin sprach leise und mit geschlossenen Augen. »Aber kann das für uns entscheidend sein? Manchmal wird Abgelegtes auch wieder plausibel. Woran erkennen wir das? Und erkennen wir es schnell genug, bevor sich das Fenster der Wahrheitsfähigkeit, wie es Kollege Dijkerhoff nennt, wieder schließt?«
    Einen Moment lang schwiegen alle. Diese Pause nutzte der Journalist Axel Jünger, um von seinem Platz in der dritten Reihe aus seine Stimme zu erheben: »Sie reden hier, als gäbe es nichts anderes als Erschütterungen des wissenschaftlichen Weltbilds zu verhandeln«, erklang es zornig.
    Der Journalist stand auf und wandte sich wechselweise ans Auditorium und ans Podium. »Darum geht es doch gar nicht! Es geht um unsere Gesellschaftsordnung! Beantworten Sie mir also folgende Fragen: Ist es richtig, dass Toggle alle Bücher der Welt in einen vom Konzern kontrollierten Datenstrom verwandeln will? Ist es richtig, dass er plant, danach alle physisch noch vorhandenen Bücher aufzukaufen und zu vernichten, um über den monopolisierten Zugang zu allem je verfassten Schriftgut die Gedanken der Menschen lesen und gegebenenfalls verändern zu können? Ist es darüber hinaus richtig, dass schon heute Aufzeichnungen darüber gemacht werden, wer welches Buch sucht, wann er sich ihm wie lange widmet, an welcher Stelle er steckenbleibt und wo er besonders intensiv

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