Tokio Killer - 02 - Die Rache
davon in Kenntnis setzen, was ein Verstoß gegen diese Regeln zur Folge hätte.
«Weißt du, Tatsu, abgesehen von beruflichen Gründen – damit meine ich den Krieg oder einen Auftrag – hat es für mich immer nur einen einzigen Grund gegeben zu töten.»
«Verrat», sagte er, um mir zu zeigen, dass er mich klar verstand.
«Ja.»
«Verrat liegt nicht in meiner Natur.»
Ich lachte, weil es das erste Mal war, dass ich aus Tatsus Mund etwas Naives hörte. «Verrat liegt jedem in der Natur», sagte ich.
Wir einigten uns, über einfache Codes und ein sicheres Bulletin Board im Internet zu kommunizieren, das ich extra für heikle Angelegenheiten eingerichtet hatte.
Ich hatte ihm versichert, dass ich mich nach Erledigung des Auftrags bei ihm melden würde, doch jetzt fragte ich mich, ob das überhaupt notwendig war. Tatsu würde durch unabhängige Quellen von dem Unfall des Yakuza erfahren und wissen, dass ich die Vereinbarung erfüllt hatte. Sicher, wir hatten eine gemeinsame Geschichte. Respekt voreinander. Sogar Sympathie. Trotzdem war kaum vorstellbar, dass die Übereinstimmung unserer Interessen von Dauer sein würde, und das war letzten Endes das Einzige, was zählte. Ein trauriger Gedanke, in gewisser Hinsicht. Es gibt nicht viele Menschen in meinem Leben, und trotz der Umstände hatte ich diese letzte Begegnung mit meinem alten Freund und Widersacher genossen.
Traurig auch insofern, als ich gezwungen war, endlich einer Tatsache ins Gesicht zu sehen: Ich würde Japan verlassen müssen. Ich hatte mich zwar auf eine solche Möglichkeit vorbereitet, aber es war ernüchternd, mir einzugestehen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war. Wenn Tatsu wusste, wie er mich finden konnte, und irgendwann meinte, dass ich wieder im Geschäft sei, und zwar auf eine Weise, die seiner Lebensaufgabe – der Bekämpfung von Korruption in Japan – hinderlich war, konnte er mich mit Leichtigkeit einkassieren. Umgekehrt, wenn ich bereit wäre, nach seinen Regeln zu spielen, konnte er immer wieder bei mir vorbeischauen und mich um einen «Gefallen» bitten. In jedem Fall hätte er mich in der Hand, und dieses Leben hatte ich hinter mir. Ich würde es nie wieder ertragen können.
Mein Pager meldete sich. Ich schaute nach und sah eine fünfstellige Nummer, die mir verriet, dass Harry auf meinen Anruf wartete.
Ich aß zu Ende und gab dem Kellner zu verstehen, dass er mir die Rechnung bringen solle. Ich blickte mich ein letztes Mal in dem Restaurant um.
Es war schön, wieder in Tokio zu sein. Ich wollte nicht wieder weg.
Draußen blieb ich stehen und genoss die kühle Abendluft von Nishi Azabu, während ich instinktiv die Straße absuchte. Ein paar Autos fuhren vorbei, ansonsten war es so ruhig wie der Friedhof, der direkt gegenüber von der Stelle, wo ich stand, im Dunkeln lag.
Ich schaute wieder zu den Steinstufen und stellte mir vor, wie ich sie hinaufging. Dann wendete ich mich nach links und setzte den Kreis fort, den ich früher am Abend begonnen hatte.
3
I CH RIEF H ARRY VON EINER T ELEFONZELLE auf der Aoyama-dori aus an. «Ist deine Leitung sicher?», fragte er, als er meine Stimme erkannte.
«Einigermaßen. Telefonzelle. Weit ab vom Schuss.» Der Standort war wichtig, weil bestimmte öffentliche Telefone von den Behörden überwacht wurden – zum Beispiel in der Nähe von Botschaften und Polizeiwachen oder in der Lobby von exklusiven Hotels, denn viele benutzten diese Apparate aus Bequemlichkeit für ihre «vertraulichen» Gespräche.
«Du bist noch immer in Tokio», sagte er. «Rufst von einem öffentlichen Telefon in Minama Aoyama an.»
«Woher weißt du das?»
«Ich hab so ein Teil an mein Telefon angeschlossen und kann jetzt die Nummer des Anschlusses ablesen, von wo ich angerufen werde, und wo der Anschluss ist. Die Polizei in den Staaten hat das Gleiche. Lässt sich nichts gegen machen.»
Harry, dachte ich lächelnd. Trotz seiner nachlässigen Kleidung, der ständig zerwühlten Frisur und obwohl er im Grunde genommen ein großer Junge war, für den Hacken wie ein Videospiel war, nur besser, konnte Harry gefährlich sein. Vor vielen Jahren hatte ich ihn mal vor betrunkenen Marines gerettet, die nach einem leichten japanischen Opfer suchten, und dieser kleine Gefallen hatte sich für mich mehr als bezahlt gemacht.
Dennoch konnte er trotz all meiner Bemühungen erstaunlich naiv sein. Ich hätte niemals irgendjemandem erzählt, was er mir gerade verraten hatte. Einen solchen Vorteil gibt man nicht
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