Tokio Killer - 02 - Die Rache
CD hatte so belastende Beweise für Japans riesiges Korruptionsnetz enthalten, dass sie ausgereicht hätten, um die Regierung zu stürzen. Für Alidori war New York wohl genau richtig gewesen. Ihr Erfolg in Amerika war nicht mehr aufzuhalten. Ich wusste das, weil ich ihn aus der Ferne verfolgte.
Er griff in eine Hosentasche und holte ein gefaltetes Blatt Papier hervor. «Hier», sagte er und gab es mir.
Ich nahm es und hielt einen Moment inne, ehe ich es auseinander faltete. Es war mir egal, wie Harry mein Zaudern deuten mochte. Als ich auf den Brief blickte, sah ich die selbstbewusste, elegante japanische Langschrift, vielleicht ein Nachhall von Kalligraphiestunden in der Kindheit und ein Widerschein der Persönlichkeit, die den Stift führte.
Haruyoshi-san,
es ist noch immer kalt in New York, und ich zähle die Tage bis zum Frühling. Ich stelle mir vor, wie schon bald in Tokio die Kirschbäume blühen, und es wird sicherlich wunderschön aussehen.
Bestimmt hast auch du die traurige Nachricht erhalten, dass unser gemeinsamer Freund Fujiwara Junichi-san gestorben ist. Mir ist gesagt worden, sein Leichnam sei in die Vereinigten Staaten überführt worden. Ich hatte gehofft, das Grab besuchen zu können, um für seinen Geist ein Opfer darzubringen, aber leider habe ich nicht herausfinden können, wo er bestattet worden ist. Falls du über Informationen verfügst, die mir in der Sache weiterhelfen könnten, würde ich mich freuen, von dir zu hören. Ich bin unter obiger Adresse zu erreichen.
Ich bete demütig für deine Gesundheit und dein Wohlergehen. Danke für deine Bemühungen.
Deine Kawamura Midori
Ich las den Brief erneut, langsam, dann ein drittes Mal. Schließlich faltete ich ihn zusammen und hielt ihn Harry hin.
«Nein, nein», sagte er, die Hände abwehrend erhoben. «Behalt du ihn.»
Er sollte nicht sehen, dass ich den Brief behalten wollte. Aber ich nickte und steckte ihn in die Innentasche meines Blazers.
Ich gab dem Barkeeper ein Zeichen, dass ich noch einen Lagavulin wollte. «Hast du geantwortet?», fragte ich.
«Ja. Ich hab ihr geschrieben, ich wüsste leider auch nicht mehr als sie.»
«Hat sie danach noch mal was von sich hören lassen?»
«Nur ein Dankeschön. Ich soll mich melden, wenn ich irgendwas erfahre, und sie meldet sich, wenn sie was erfährt.»
«Das ist alles?»
«Ja.»
Ich fragte mich, ob sie die Geschichte geschluckt hatte. Wäre nicht ihr Dank für Harrys Bemühungen gewesen, hätte ich gewusst, dass sie die Geschichte nicht geschluckt hatte, weil sie Klasse hatte und es untypisch für sie gewesen wäre, nicht zu reagieren. Aber das Dankeschön könnte auch reine Höflichkeit gewesen sein, die nichts an ihren nach wie vor vorhandenen Zweifeln änderte. Vielleicht sollte es Harry sogar in dem Glauben wiegen, sie sei mit der Antwort zufrieden, obwohl das Gegenteil der Fall war.
Blödsinn, meldete sich ein Teil von mir zu Wort. So ist sie nicht.
Dann ein bitteres Lächeln: Nicht wie du, meinst du.
Midori hatte nichts Falsches an sich, und dieses Wissen löste einen leisen Schmerz aus. Das Milieu, in dem ich schon so lange verkehrte, hatte mich derart geprägt, dass ich meist vom Schlimmsten ausging. Zum Glück gelang es mir noch ab und an, dem Drang zu widerstehen.
Egal. Der Verbleib der CD und mein Verschwinden war einfach mit zu vielen Merkwürdigkeiten verbunden, und sie war zu clever, um das nicht zu sehen. Ich hatte im letzten Jahr viel darüber nachgedacht und war immer zum selben Schluss gelangt.
Nach dem, was zwischen uns gewesen war, hatten die Zweifel bestimmt zunächst klein angefangen. Aber sie wurden größer, weil es nichts gab, was sie hätte zerstreuen können. Immerhin, so hatte sie bestimmt gedacht, war das belastende Material auf der CD nie veröffentlicht worden. Das ging auf Tatsus Konto, nicht auf meines, aber das konnte sie natürlich nicht wissen. Sie wusste lediglich, dass der letzte Wunsch ihres Vaters nicht erfüllt wurde, dass sein Tod letztlich sinnlos gewesen war. Dann musste sie sich erneut gefragt haben, wieso ich gewusst hatte, wo die CD in Shibuya zu finden gewesen war. Sie hatte sich bestimmt meine früheren Erklärungen durch den Kopf gehen lassen und für unzureichend befunden. Schließlich musste sie begonnen haben, über den Zeitpunkt meines Verschwindens, so kurz nach dem Tod ihres Vaters, nachzudenken.
Und sie wusste, dass ich in irgendwelche dunklen Dinge verwickelt war, wenngleich auch nicht genau, in was.
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