Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
und dem Duft von Kaffee und Cava – und keine schlechten Erinnerungen.«
Sie lächelte und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ihre blauen Augen strahlten im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster fiel. »Klingt verlockend. Vor allem das mit der Liebe in der Nacht.«
»Das war auch meine Lieblingsvorstellung.« Sie lachte. »Ich weiß nicht, John. Ich weiß nicht.«
Ich trank einen Schluck Kaffee und betrachtete sie. Ich mochte es, wenn sie mich John nannte. Mein Adressbuch ist dünn, und die wenigen Leute darin reden mich für gewöhnlich nicht mit Vornamen an. Midori hatte mich Jun genannt, die Kurzform von Junichi, meinem japanischen Vornamen, und damals hatte mir das auch sehr gefallen. Aber da hatte sie mich noch nicht verraten, um unseren kleinen Sohn zu schützen, und mir dadurch verwehrt, in seinem Leben eine Rolle zu spielen. Unter den schlechten Erinnerungen, die ich soeben erwähnt hatte, nahm Midori einen führenden Platz ein.
»Was wäre, wenn du was ganz anderes machen würdest?«, fragte ich. »Wenn du nie mit dem angefangen hättest, was du jetzt machst. Denkst du je darüber nach?«
»Manchmal«, gab sie zu.
»Was wäre dann?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie wieder. »Vielleicht wäre ich Modefotografin geworden. Das ist die Tarnung, unter der ich in Paris lebe, und sie gefällt mir. Ich glaube, das hätte ich als richtigen Beruf machen können.«
»Dann mach es jetzt.«
Sie nahm meine Hand. »Du weißt, dass das nicht geht. Der Iran will sein Atomprogramm durchziehen, wir haben die Hamas im Gazastreifen und die Hisbollah im Libanon. Es wird noch schlimmer werden, ehe es besser wird, falls es überhaupt je besser wird. Ich kann nicht einfach aufhören, zu tun, was ich tue, um stattdessen magersüchtige Mädchen auf Laufstegen zu fotografieren.«
»Ist das alles, weswegen du aufhören würdest?«
»Du weißt, was ich meine.«
Ich versuchte es erneut, als wir einmal abends eng umschlungen auf der Pont Sully standen und die Lichter der Ile Saint-Louis und die angestrahlte Fassade von Notre Dame betrachteten. »Deine Organisation nutzt dich aus«, sagte ich zu ihr. »Das hast du selbst gesagt. Wieso hörst du nicht einfach auf?«
Ich spürte, wie sie erstarrte. Dann wich sie einen halben Schritt zurück. »We oft soll ich das noch sagen«, erwiderte sie und sah mich an. »Die Organisation ist nicht das Entscheidende. Es geht um mein Land. Mein Volk.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kauf ich dir nicht ab. Ich glaube, du willst den Männern, die dir die Schuld an Gils Tod in Hongkong gegeben haben, etwas beweisen. Du willst ihnen zeigen, dass du zäher bist als sie, dass sie dich nicht vergraulen können.«
»Wieso muss bei dir immer alles so eindimensional sein? Ja, ich habe persönliche Gründe zu bleiben. Es hat was mit meiner Würde zu tun, schön, das gebe ich zu. Aber wieso kannst du nicht wenigstens anerkennen, dass auch andere Gründe eine Rolle spielen?«
»Weil …«
»Ich kann dir sagen warum. Weil du noch nie für irgendwas gearbeitet hast, das größer war als du selbst. Du glaubst an gar nichts. Deshalb kannst du dir auch nicht vorstellen, dass ich an etwas glaube. Deiner Meinung nach mach ich mir entweder was vor, oder ich lüge oder bin naiv.«
Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich verstehe deine Gründe besser, als du denkst. Aber ich weiß auch, je mehr du dich für die Organisation oder das Korps oder das Land aufopferst, desto ausgehöhlter wirst du dich fühlen, wenn du erkennst, dass deine Liebe nie erwidert wird. Umso verratener wirst du dir vorkommen.«
Wir schwiegen einen Moment. Sie sagte: »Das muss nicht bei jedem so sein.«
»Kennst du irgendwen, der eine andere Erfahrung gemacht hat?«
Wir starrten uns an. Ihre Augen waren zusammengekniffen, und ihre Nasenlöcher weiteten sich mit jedem Atemzug. So lief das bei uns. Liebesglück und Harmonie konnten so schnell und unvermittelt wie ein Tropensturm in Wut und gegenseitige Beschuldigungen umschlagen. Was es erträglich machte, was es gut machte, war, dass sich das Unwetter genauso plötzlich wieder verzog und etwas Wunderbares zurückließ.
»Jedenfalls«, sagte ich, »bin ich an etwas gebunden, das größer ist als ich: an dich.«
Ihre Augen wurden sanfter. Dann trat sie näher und küsste mich. Ich wandte den Kopf ab, noch immer verärgert, aber sie hob die Hand und drehte mein Gesicht wieder in ihre Richtung. Ich sträubte mich kurz, mehr der Form halber, und gab dann nach.
Wir
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