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Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung

Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung

Titel: Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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standen eine Minute so da, und der Kuss verwandelte sich in mehr. Ich konnte ihre Brüste spüren, die Wärme ihrer Haut, und plötzlich hatte ich den sehnlichen Wunsch, irgendwo mit ihr allein zu sein.
    Sie brach den Kuss ab und hakte ihre Finger in meinen Gürtel. »Gehen wir zu dir«, sagte sie. »Da können wir uns besser streiten.«
    Wir taten es. Und dann war alles wieder gut, bis zum nächsten Mal.
    Doch zwischen den regelmäßig wiederkehrenden Stimmungsschwankungen von erbittertem Streit zu süßer Versöhnung lief es ansonsten nicht schlecht. Ich hab mich in meinem Leben nicht auf viele Frauen eingelassen, und Delilah war die Einzige, die meine Vergangenheit kannte und akzeptierte. Die verblüffend stimmige Chemie zwischen uns und die leidenschaftliche Romanze, zu der sie führte, war für mich ein stilles Wunder. Delilah offenbarte mir gegenüber Dinge, die, das spürte ich, von ganz tief in ihr kamen. Sie zeigte mir Aspekte ihres Denkens und ihres Körpers, die sie aus langer Gewohnheit grimmig zu schützen gelernt hatte und die sie jetzt nur langsam, behutsam, mit ängstlicher Zuversicht preisgab.
    Ich merkte, dass auch ich mich ihr gegenüber öffnete. Ich hatte es ernst gemeint, als ich sagte, dass ich mich allmählich an sie gewöhnte. Ich war so lange allein gewesen, dass ich mich selbst nicht mehr anders kannte. Aber ganz langsam und zu meinem eigenen Erstaunen fing ich damit an, für zwei zu denken. Manchmal machte diese Nähe mir Angst und wurde zur Belastung. Dann wieder kam sie mir vor wie ein Rettungsfloß. So oder so, meine Gefühle für Delilah waren real, und sie wurden tiefer.
    Aber es gab etwas, was ich Delilah nicht erzählte. Wenn ich zum Beispiel in einem Café saß und las, konnte es passieren, dass ich nicht einmal aufschaute, wenn ich jemanden hereinkommen hörte, weil ich so vertieft in mein Buch war, oder ich war auf einem Morgenspaziergang so in Gedanken versunken, dass ich manchmal eine ganze Minute verstreichen ließ, ohne mich umzuschauen. In solchen Momenten erfasste mich eine Art Grauen, das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man aus Versehen in voller Fahrt eine rote Ampel überfahren hat und wie durch ein Wunder unbeschadet über die Kreuzung gekommen ist. Man kann sich zwar sagen, ist ja noch mal gut gegangen, aber man weiß trotzdem, dass man Mist gebaut hat und in einem anderen Universum von einem heranbrausenden Lkw zerquetscht wurde oder eine junge Mutter niedergemäht hat, die vom Bürgersteig auf die Straße trat. Ein urzeitlicher Teil des Verstandes schreit: Wie konntest du so unachtsam sein? Willst du etwa sterben?
    Ich war es gewohnt, mit der Angst zu leben, und ich hatte immer einen Grund dafür gehabt – meistens den, dass irgendwer mich umbringen wollte. Jetzt, da die Gründe für die Angst in die Ferne rückten und die Angst selbst nachließ, füllte Unruhe das Vakuum. Hatte ich so lange in Angst gelebt, dass ich irgendetwas brauchte, wovor ich Angst hatte, etwas, worauf meine Furcht sich konzentrieren konnte?
    Ich versuchte es mit langen nächtlichen Spaziergängen, je einsamer die Straßen, desto besser. Im 18. Arrondissement gab es ein Viertel namens La Goutte d’Or, nicht weit vom Barbès, und da fühlte ich mich am wohlsten. In der Gegend waren überall die ausgebrannten Gerippe von Autos zu sehen, die von Einheimischen abgefackelt worden waren, und ihre Bewohner waren Dealer, Bettler und Illegale aus dem Maghreb, was ihr etwas Gefährliches, Verzweifeltes verlieh, das mich auf Trab hielt. Die Leute auf den Straßen musterten mich, wenn ich vorbeikam, unschlüssig, was sie von mir halten sollten. Ich war in Frankreich, aber mein Gesicht war japanisch; meine Kleidung war unauffällig, aber mein Benehmen ganz und gar nicht. Abgesehen von gelegentlichen Drogenangeboten ließen sie mich meistens in Ruhe.
    Einmal kam ich an einem Marokkaner mit geschorenem Kopf und Ohren voller Metallsteckern vorbei, der anfing, mich zu verfolgen. Ich blickte mich seelenruhig nach ihm und den beiden Freunden um, die er im Schlepptau hatte, um ihnen zu verstehen zu geben, dass ich sie hinter mir wusste und außerdem weder verängstigt noch blöd, noch eine leichte Beute war. Er missdeutete meinen warnenden Blick jedoch als Eröffnung und rief mir in einem marokkanisch eingefärbten Französisch zu: »Was machst du hier, Mann? Willst du irgendwas kaufen? Ich besorg dir alles. Was willst du?«
    Ich vergewisserte mich mit einem Rundumblick, dass ich nicht in die Zange genommen

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