Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
und lebte ängstlich in einer unausgesprochenen, bröckelnden Waffenruhe, während sie langsam einen Krieg verlor, dessen Anzeichen überall sichtbar waren, aber von den Bewohnern lieber missachtet wurden.
Ich mietete eine kleine Wohnung in der Rue Beautreillis im 4. Arrondissement, der Straße, in der Jim Morrison mal gewohnt hatte, am Rande des Marais. Die Miete war hoch, aber ich konnte sie mir leisten, nachdem mir ein Einsatz in Japan ein Jahr zuvor zwei Millionen steuerfreie Dollar eingebracht hatte. Das Viertel hatte Flair. Mir gefielen das Licht der Straßenlaternen, das Lachen und das Stimmengewirr, das aus den Bars und Bistros drang. Auf eine merkwürdige Weise erinnerte mich die Gegend in ihrer Intimität an Sengoku, den Tokioter Stadtteil, den ich tausend Jahre zuvor hatte verlassen müssen.
Delilah war beruflich sehr eingespannt, und da wir uns deshalb nicht so oft sehen konnten, hatte ich reichlich Zeit für mich allein. Das war gut. Einerseits weil ich gern allein bin; andererseits weil ich in Paris Zeit hatte, mich an das neue Gefühl zu gewöhnen, einen Menschen in meinem Leben zu haben. Ich meine nicht nur die für mich neue Situation, mehrmals die Woche verabredet zu sein – Dinner im Restaurant Le Petit Célestin am Quai des Célestins; ein Spaziergang durch die Gassen der Île Saint-Louis; eine Nacht in meiner Wohnung; manchmal eine Nacht bei ihr. Ich meine das Ganze, das Gefühl, vor allem deshalb an einem bestimmten Ort zu leben, weil ein anderer Mensch dort lebte. Eigentlich mochte ich dieses Gefühl, aber ich brauchte eine Weile, mich dran zu gewöhnen, und ich war froh, dass die Umstände es mir ermöglichten, meinen eigenen Rhythmus zu finden. Ich nutzte die Zeit, die ich allein war, um die Stadt zu erkunden und zu lesen und Französisch mit Hilfe von Audiokassetten zu lernen. Nach Japanisch, Englisch und Portugiesisch war es meine vierte Sprache, und mir fielen einige Grundkenntnisse aus meiner Schulzeit wieder ein. Alles in allem lernte ich recht schnell.
Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, meinen Beruf endgültig an den Nagel zu hängen, aber erst seit ich mit Delilah zusammen war, hatte ich den Wunsch realisieren können. Eine Weile hatte es ganz so ausgesehen, dass auch für sie das Ende ihrer Karriere nahte. Ihre Organisation gab ihr die Schuld am Verlust eines Kollegen, eines Killers namens Gil, der bei einem ansonsten erfolgreichen Zugriff auf einen Terroristen in Hongkong getötet worden war, und wollte sich ihrer entledigen. Aber sie hatte sich nicht einschüchtern lassen und ihre Position behauptet, und jetzt war sie entschlossener denn je zu bleiben.
Ich war zwiegespalten, was ihre Arbeit anging. Einerseits hatte ich dadurch mehr Freiraum, was mir gefiel. Andererseits machte es mir ihr Verbleib in der Branche schwerer, mich von meinem alten Leben zu verabschieden. Zum Teil lag das an den Verhaltensmustern – an der Notwendigkeit, eine Tarngeschichte parat zu haben, falls sie in meiner Begleitung jemandem über den Weg lief, den sie kannte, sowie ihren routinemäßigen Umgebungskontrollen und sonstigen Taktiken –, die mich weiterhin daran erinnerten, wer ich immer gewesen war. Zum Teil lag es auch an den fortlaufenden operativen Erfordernissen, denn solange sie geheimdienstlich aktiv war, befand sie sich in Gefahr, und wenn du mit jemandem zusammen bist, der in Gefahr ist, hältst du dich besser auch für gefährdet. Und zum Teil war es rein gedanklich: Wenn ich eine Beziehung zu einer Frau hatte, die noch in der Branche aktiv war, wie weit konnte ich mich dann selbst von meinem alten Leben verabschieden?
Ich drängte sie manchmal, aufzuhören, aber nicht zu stark. Ich hatte gelernt, dass Delilah eine Kämpferin war, und wenn sie das Gefühl hatte, dass jemand sie unter Druck setzen wollte, dann neigte sie dazu, hitzig zu reagieren, und man erreichte gar nichts.
»Wieso setzt du dich nicht auch zur Ruhe?«, fragte ich sie einmal, bei Café Crème und Croissants. Delilah hatte mich ins Le Loir dans la Théière in der Rue des Rosiers eingeladen, dessen Name auf die Haselmaus in der Teekanne aus Alice im Wunderland zurückgeht, und mir gefielen die zusammengewürfelten Stühle und kleinen Holztische, die Kunst an den Wänden, der himmlische Geruch der Jahre mit frisch gemahlenem Kaffee. »Wir könnten uns eine Wohnung am Strand in Barcelona kaufen. Uns nachts zum Rauschen der Wellen lieben, morgens am Strand spazieren gehen. Nichts außer dem Gefühl der Sonne
Weitere Kostenlose Bücher