Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
wurde, blieb dann stehen und drehte mich um. »Bleib mir lieber vom Leib«, sagte ich auf Französisch.
Doch er kam näher. Vielleicht war er zu dumm, um meine Signale zu verstehen. Oder vielleicht hatte er beschlossen, den Widerspruch zwischen meiner äußeren Erscheinung und meinem Verhalten zu klären, indem er mich genauer in Augenschein nahm, statt einfach achselzuckend seiner Wege zu ziehen.
»Nein, Mann«, sagte er. »Warte. Ich will dir bloß helfen.«
Seine Freunde verteilten sich, kamen von beiden Seiten auf mich zu. Ich spürte, wie das Adrenalin heiß durch meinen Körper strömte, und, ja, es war ein fast süßes Gefühl. Ich warf wieder einen Blick nach hinten. Alles war frei.
Es würde ein kurzes Intermezzo werden, das war mir klar. Eine, vielleicht zwei weitere Fragen, um mich abzulenken und sich meiner Schwäche zu vergewissern; ein unerwarteter Schlag, um mich zu Boden zu strecken und seinen Freunden zu signalisieren, dass sie mitmischen sollen; ein munteres kollektives Getrampel, und dann nichts wie weg mit meiner Brieftasche, Uhr und allem anderen, was ich nicht mehr brauchen würde.
»Kein Problem«, sagte er und kam allmählich in Reichweite. »Ich weiß, du bist hier in La Goutte, weil du was Bestimmtes suchst. Ich will …«
Den meisten Leuten fällt es schwer, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, zum Beispiel einen Satz zu beenden und dabei einer auf die Nase zielenden Faust auszuweichen. Weshalb ich ihm mitten im Satz eine verpasste. Der Schlag war nicht übermäßig fest, aber als schlichter Überraschungscoup war das auch nicht erforderlich. Ich wollte ihn nur ein wenig verunsichern und in seine Schranken verweisen. Was auch gelang.
Ich machte einen Schritt an ihm vorbei, packte seine Gurgel mit einem Krallengriff und riss mit meinem rechten Bein beide Beine unter ihm weg. Bis auf den Griff an die Gurgel und dem Betonboden statt einer Matte war es mehr oder weniger der klassische O-soto-gari, die »Große Außensichel«, ein Beinwurf, den ich hunderttausendmal in meinen Jahren im Kodokan eingesetzt hatte. Einfach, aber noch immer einer meiner Lieblingswürfe.
Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte mein freundlicher Helfer horizontal in der Luft. Dann fiel er nach unten, wesentlich beschleunigt durch den Druck, den ich auf seinen Hals ausübte. Als er mit dem Hinterkopf auf dem Bürgersteig aufschlug, knallte es hörbar, ein Geräusch, wie wenn ein dickes Buch zugeschlagen wird.
Ich zog ein Klappmesser aus meiner Hosentasche und sicherte mich rundum ab. Alles frei. Ich machte einen Schritt auf seine beiden Freunde zu, die wie angewurzelt stehen geblieben waren und mich entsetzt anstarrten. »Wollt ihr mir immer noch helfen?«, fragte ich mit ruhiger Stimme.
»Nee, Mann«, erwiderte einer von ihnen, die Hände kapitulierend erhoben. Sie wichen zurück. »Alles klar, Mann.«
Am nächsten Tag sah ich die Zeitungen durch, entdeckte aber kein Wort über einen Toten in La Goutte. Mein freundlicher Helfer hatte anscheinend doch einen härteren Schädel, als ich gedacht hatte. Aus meiner Perspektive hatte die Geschichte nur den einen Nachteil, dass ich mich eine Weile nicht mehr in der Gegend blicken lassen konnte.
In anderen Vierteln setzte ich meine nächtlichen Streifzüge jedoch fort. Aber richtig hilfreich war es nicht. Gefahrenbewusstsein, um einen drohenden Überfall auf der Straße zu erkennen, ist eine Sache. Die extreme Wachsamkeit, die erforderlich ist, um gegen Profis eine Chance zu haben, die geduldig, überlegt und gezielt vorgehen, um dich zu töten, ist etwas anderes. Wenn du von Letzterem abhängig bist, und vielleicht war ich das, ist Ersteres höchstens eine gelegentliche Dosis Methadon bei einer langjährigen Heroinsucht.
Je enger meine Beziehung zu Delilah wurde und je mehr ich mich ganz allmählich von der Wesensart entfernte, die man braucht, um in der Branche zu überleben, desto unwohler wurde dem Teil in mir, der in bedrohlichen Umgebungen so gut funktionierte, dem Teil, der mich im Dschungel von Vietnam und danach in zahllosen Großstadtdschungeln am Leben erhalten hatte. Dieser Killer in mir, dieser Eismann, der immer tun konnte, was getan werden musste, fühlte sich ins Abseits gedrängt, entmündigt. Aber was sollte ich machen? Ich wusste nicht, wie ich ihn besänftigen sollte oder ob mir das überhaupt möglich war. Ich wusste nur, dass er tödlich war, tödlicher als alle, die ich je gekannt hatte, und zu fast allem fähig, wenn er das Gefühl hatte, dass
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