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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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war die Reise?«, fragte Kenji.
    »Ich denke, ich bin ein anderer geworden«, sagte ich.
    Er blickte mich irritiert an. Mit etwas Verzögerung kamen Laute des Erstaunens.

    Zurück in Deutschland entschied ich mich für ein Studium der Japanologie. Ich wollte unbedingt all die Schriftzeichen lernen, die ich während dieser Reise nicht hatte lesen können, und all das verstehen, was mir unverständlich geblieben war. Zwischendrin verbrachte ich ein Studienjahr am abgelegensten Ende Japans, wo die Stromfirmen ihre Atommeiler schon deshalb hinsetzen, weil dort kaum einer wohnt. In Fukui.

Fukui, 1997
    Der Name Fukui bedeutet übersetzt Glücksbrunn, und so ländlich fühlt sich der Ort auch an. Die Gegend liegt durch mehrere Bergzüge von der Zivilisation Tokios getrennt und pflegt liebevoll ihren hinterwäldlerischen Dialekt. Als ich in Fukui ankam, hatte ich in den ersten Tagen das Gefühl, gar kein Japanisch zu können. Ich verstand vor allem Saito-san nicht. Er saß mir und einer Mitstudentin im Hausmeisterraum meines Wohnheims auf einem niedrigen Sofa gegenüber und erklärte und erklärte. Herr Saito war der Beauftragte für die Gaststudenten. Statt ihm zuzuhören, blickte ich aus dem Fenster. Draußen wurde es dunkel, und das hässlich-graue Nachbargebäude aus Beton, offenbar ein Abrisshaus,
verschmolz mit dem Blauschwarz des Abendhimmels.
    Saito-san wäre mit seinem Dialekt auch für einen Japaner aus Tokio schwer verständlich gewesen. In den ersten Minuten sagte ich noch ganz naiv, dass ich Probleme mit der »Hörentnahme« habe (so heißt es auf Japanisch), und bat darum, dass er langsamer spreche. Er guckte jedes Mal nur erschreckt und fuhr mit noch mehr Worten fort, und zwar schneller als vorher. Ich blickte also weiter unauffällig zum Fluss hinüber, um mir die Zeit zu vertreiben.
    Am folgenden Vormittag tapste ich noch allein durch Fukui und kaufte mir, was ich so brauchte - eine Wolldecke gegen die einsetzende Kälte, Putzmittel, ein paar Töpfe. Außerdem ging ich in einen riesigen Betonkasten von Supermarkt. Im ersten Stock, wo es Töpfe und Futons gab, plärrte das ganze geschlagene Jahr über ein und dasselbe Kinderlied. »Wenn ich erst mal Grundschüler werd, werd ich hundert Freunde finden …« Es nervte, aber immerhin prägte sich mir so mein erstes japanisches Lied ein.
    Auf dem Rückweg traf ich Matsumoto-sensei, meine Betreuungsprofessorin. »Warum warst du denn heute nicht bei den ersten Lehrveranstaltungen? Ich habe Saito-san extra aufgetragen, dich darauf hinzuweisen.« - Ich machte große Augen und flüchtete mich in Laute des Erstaunens, des Bedauerns und der Reue. Jetzt wusste ich zumindest teilweise, worauf Saito-san uns hatte hinweisen wollen.
    Als ich nach Hause kam, war es bereits dunkel. Ich knipste das Licht in meinem Wohnheimzimmer an und erschrak. Schwarze fingerlange Schatten flüchteten auf dem Boden in Richtung Ritzen und Ecken. Der Raum war völlig von
Kakerlaken verseucht. Im warmen Japan leben viele Kakerlaken. Später, in Tokio, würde mir mal eine versehentlich in der Mikrowelle explodieren, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt in Fukui ließ ich erst mal meine Einkäufe fallen, darunter einige Kochtöpfe aus Blech, und ich muss einen kleinen Schrei ausgestoßen haben, denn Sekunden später klopfte es an der Tür. Ich schaute durch den Spion und sah einen Mann, definitiv kein Japaner, eher Südeuropäer.
    »Alles klar?«, fragte er auf Englisch.
    Ich öffnete die Tür.
    »Hallo«, sagte ich. »Ich heiße Finn.«
    »Miguel«, sagte Miguel. »Bist du okay?«
    »Ja. Nein. Es war gar nichts, nur ein paar Kakerlaken.«
    »Ach so. Das liegt an dem Chinesen«, informierte mich Miguel, als wäre damit alles gesagt.
    »Chinesen?«
    »Du musst ein Gokiburi-Hoi-Hoi aufstellen und das Fett aus der Küche wegputzen. Dann kommen auch keine Kakerlaken mehr.«
    »Hoi-Hoi?«, fragte ich. Ich verstand kein Wort. Erst später erfuhr ich, dass »Gokiburi« japanisch für Kakerlake ist.
    »Ich habe Bier im Kühlschrank, möchtest du nicht erst mal kurz rüberkommen?«, fragte Miguel, und das zumindest verstand ich.
    Miguel war ein Student aus Kolumbien, der an der Uni Fukui einen Master als Ingenieur machte. Sein Zimmer war das spiegelbildliche Gegenstück zu meinem. Wo bei mir die Kochnische lag, befand sich bei ihm die Toto-Badezimmereinheit und umgekehrt. (Diese Badezimmereinheiten pressen
eine Sitzbadewanne, ein Klo und ein Waschbecken auf den Platz eines größeren Wandschranks.

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