Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Sie kommen auf Lastwagen komplett als zusammenhängender Plastikgegenstand, den die Bauleute mit dem Kran in die Wohneinheiten senken. Sie verbinden dann bloß noch die Strom- und Wasserleitungen. Ich habe das in Tokio beim Bau eines niedrigeren Gebäudes nebenan beobachtet.)
»Dein Nachbar war Chinese«, erklärte Miguel, während wir uns auf seinem Fußboden ausstreckten, jeder mit einer großen Dose Bier in der Hand. »Und er hat jeden Tag mit viel Fett im Wok gekocht. Ich habe es spritzen gehört.«
»Aha«, sagte ich.
»Verstehst du nicht? Kakerlaken lieben Fett. Nachdem der Chinese eingezogen war, kam das Ungeziefer.«
»Dann werde ich also das ganze Studienjahr über Kakerlaken haben?«, fragte ich und schluckte bei dem Gedanken, dass mir nachts im Schlaf drei Zentimeter lange Insekten übers Gesicht laufen würden.
»Aber nein!«, erklärte der Südamerikaner und schlug sich mit der halbleeren Bierdose in die Faust. »Es lässt sich eine Menge machen. Es ist wichtig, dass du die Kakerlaken besiegst.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich gelehrig.
»Das hier ist ein Gokiburi-Hoi-Hoi«, sagte Miguel und zog einen Pappgegenstand aus der Ritze zwischen Kommode und Bücherregal.
Das Ding sah aus wie ein flaches Minihäuschen mit Türen und Fenstern. Die Türchen standen offen. Die Fensterchen waren nur aufgemalt. In ihre Ränder gezeichnet waren fröhlich winkende Kakerlaken, die keck mit den Fühlern zu
wippen schienen. Dem menschlichen Betrachter sollte das wohl andeuten, dass sich die Insekten von so einem heimeligen Häuschen besonders angezogen fühlen. Außerdem malen Japaner auf alles niedliche Comicfiguren.
»Es ist wichtig, hier die Fußabstreifer anzukleben«, erklärte Miguel und zeigte auf die Flächen vor den Türen. »Wenn die Kakerlaken staubige Füße haben, bleiben sie nicht kleben.«
Er spähte durch die Tür in sein Hoi-Hoi. »Oh, da sind ja welche drin.«
Jetzt sah ich es auch. Aus einer Ritze ragten lange, zuckende, gebogene Kakerlakenfühler. Ich bekam eine Gänsehaut, begann aber zu verstehen. Die Insekten kamen ins Hoi-Hoi und blieben auf einem stark klebrigen Fußboden hängen.
»Warum gehen die da rein?«, fragte ich.
»In die Mitte pappt man beim Aufstellen einen Köder, der nach gammelndem Fisch und Sexuallockstoffen der Kakerlaken riecht - einfach unwiderstehlich. Sie kommen also aus deinem Zimmer rüber …«, Miguel hielt sich die Hände als Fühler an den Kopf und machte mit den Beinen im Sitzen das Krabbeln der Kakerlaken nach, »… kommen unter meiner Türschwelle durch …«, er buckelte, machte sich flach und robbte auf dem Teppich, »… und dann riechen sie es!«
Miguel folgte meinem Blick und sah das Hoi-Hoi in seiner Hand. »Oh, Entschuldigung.« Er schmiss die Kakerlakenfalle in den Sack für brennbaren Müll, wusch sich die Hände und holte mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank.
Am nächsten Morgen beseitigte ich allen Fettschmutz aus der Kochecke und überhaupt die ganze klebrig-fleckige
Schicht vom Kunststoffboden. Dann verteilte ich Kakerlakengift in allen Ecken und baute eine ganze Fünferpackung Gokiburi-Hoi-Hois auf. Beim Kauf waren die Kakerlakenhäuser flachgelegt. Ich bastelte sie fertig, indem ich sie nach Anleitung auseinanderfaltete, das Beutelchen mit dem fischig stinkenden Lockstoff in die Mitte klebte, die Fußmatten anbrachte und das Dach zusammensteckte. Vor mir stand ein niedliches Kakerlakenhaus, aus dessen Obergeschossfenster ein gezeichnetes Kakerlakenweibchen einladend fühlerte. »Na wartet, ihr werdet noch …«, murmelte ich und schob das Hoi-Hoi unter die Kommode. Kakerlaken sah ich bis zum Ende meines Aufenthalts kaum noch.
Ich klopfte bei Miguel.
»Kann ich mit dir auch über andere Sachen sprechen als über Kakerlaken?«
»Das ist ein wichtiges Thema.«
»Es dürfte jetzt erledigt sein. Möchtest du vielleicht diesmal zu mir rüberkommen? Ich habe Bier besorgt. Das Zimmer riecht allerdings noch ein wenig nach Chlor. Und pass in den Ecken auf, die sind giftig.«
Ich ließ mir von Miguel erzählen, wie die Uni funktionierte und was ich zu beachten hätte. »Das ist hier alles etwas seltsam, aber irgendwie auch okay«, fasste er zusammen. Sein Professor behandelte ihn anscheinend so von oben herab, dass er im ersten Jahr deswegen Depressionen bekommen hatte. Im hintersten Winkel Japans ist ein Lehrer noch ein Halbgott, wie es sich im bildungswütigen Ostasien gehört. Das passte mit der lockeren Einstellung, die wir
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