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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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braungrauen Tentakel klammerte sich noch um den Unterarm des einen Kochs, da gelang es dem anderen, das Tier so nahe ans kochende Wasser zu bringen, dass es sich verbrühte und die Kraft in den Armen verlor. Der
Krake stürzte in den Topf, in dem das Wasser noch einmal mächtig aufwallte und dann weiterkochte.
    Schnitt, die Studiogäste haben bereits Stücke des Kraken in Marinade mit Gemüse auf ihren Tellern. »Leeeeeecker«, bricht eine der geladenen Berühmtheiten in spitze Schreie der Verzückung aus. Ich machte Laute des Erstaunens.

    Von Anfang an wollte ich möglichst viele japanische Freunde gewinnen. Mit Joshua, einem amerikanischen Mitstudenten, wagte ich mich in das Borg-Schiff. So nannten wir das Wohnheim für die einheimischen Studenten - den verfallenen Betonkasten hinter einem hohen Zaun neben unserem Wohnheim. Es war das Gebäude, das ich am ersten Tag für ein Abbruchhaus gehalten hatte. Hinter einem weiteren Zaun stand noch ein zweiter, identischer Klotz. Das war das Heim für Mädchen.
    In den frühen Morgenstunden sah ich von meinem Fenster aus, wie männliche Gestalten auf den Feuertreppen des Mädchenheims auftauchten, runterliefen, in der Mitte über den Zaun turnten und auf der anderen Seite bei den Jungs wieder die Feuertreppe hinaufschlichen. Die Hausmeister erlaubten offiziell keinen Zimmerbesuch über Nacht. Da die Studentinnen und Studenten in Zweierzimmern schliefen, mussten sie ihre Zusammenkünfte vermutlich gut organisieren.
    Auf den Vergleich mit den Raumschiffen der unheimlichen Maschinenwesen aus »Raumschiff Enterprise« kamen Joshua und ich bei unserer ersten Expedition dort hinüber. Die Borg ignorieren Besucher auf ihren Schiffen, in denen eine düstere, dampfige Atmosphäre herrscht. Genau wie in
diesen Wohnheimen. Uns war tatsächlich etwas bange. An den Wänden wucherten braune Flecken. Das Resopal des Fußbodens war bis auf den Beton hinunter abgenutzt. Wir schlichen in Socken die erste Treppe hinauf. Anders als im Ausländerheim mussten die Bewohner hier ihre Schuhe am Eingang abstellen.
    Die japanischen Studenten taperten in Trainingsanzügen und schlaffer Freizeitkleidung um uns herum und schienen keine Notiz von uns zu nehmen, obwohl wir eigentlich hätten auffallen müssen wie ein Paar blutbeschmierter Axtmörder im Mädchenpensionat.
    Auf jedem Stockwerk klebten wir Zettel an die Wände: »Japanische Freunde gesucht«, mit unseren Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Es meldete sich keiner, aber bei unserer zweiten Expedition ins Borg-Schiff sprach uns ein Student vor einem unserer Zettel an. »Schön, euch kennen zu lernen. Könnt ihr sprechen?«, sagte Yusuke. »Ich habe eine Freundin, die unbedingt Englisch üben will. Die möchte ich euch vorstellen.« Wir verabredeten uns für den späteren Nachmittag vor den Toren der Wohnheime. Auf Yusukes gute Freundin Akiko mussten wir drei Jungs noch einige Minuten warten. An diesem Oktoberabend beleuchtete die Sonne unsere Betonwohnheime in einem intensiven Orange. Dieses Licht gab ihnen einen fast poetischen Anstrich, wie auf realistischen Arbeitergemälden der Sowjetunion. Schließlich kam Akiko um die Ecke, damals für mich noch irgendeine Japanerin in Jeans und T-Shirt, wir stellten uns kurz vor und zogen zu viert los in Richtung Stadt.
    Als Studenten konnten wir uns noch völlig unkompliziert anfreunden. Heute tausche ich mit neuen Bekanntschaften
zunächst umständlichst Visitenkarten und benutze monatelang steife Höflichkeitswendungen, bis ein näheres Kennenlernen in Frage kommt.
    Akiko studierte an der Uni Informatik, wollte aber unbedingt ihr Englisch verbessern und dafür Ausländer kennen lernen. »Wenn du von der Uni Fukui kommst, hast du ohne gutes Englisch keine Chance bei den Unternehmen in Tokio oder Osaka«, sagte sie.
    Wir hatten unsere erste Bekanntschaft geschlossen. Damals war mir noch nicht klar, dass sie über Jahrzehnte halten würde.

    Wer exotische Fremdsprachen spricht, kommt früher oder später an den Punkt, wo es für Muttersprachler lustig wird. Yusuke brachte ich besonders zum Lachen, als ich sagen wollte: »Ich trage es im deutschen Blut«, was vielleicht von Anfang an nicht die geschickteste Ausdrucksweise war. Doch ich benutzte zudem die falsche Lesung des Schriftzeichens für Blut. Für japanische Ohren klang das Wort wie »Anus«.
    Yusuke brauchte mehrere Stunden, um sich wieder einzukriegen. Nachdem er die Sache Akiko erzählt hatte, hing mir der Satz als fortlaufender Witz an. »Das

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