Tokio Total - Mein Leben als Langnase
japanischen Literatur dringen eine Menschlichkeit und Wärme, die uns heute fremd sind. In den Naturwissenschaften oder der Ingenieurskunst hatte Japan der Welt damals tatsächlich kaum etwas zu bieten, doch in seiner Konzentration auf Ästhetik, Details und menschliche Beziehungen erreichte das Inselreich immer neue Höhepunkte. In den Romanen des 11. Jahrhunderts konnten sich die Autoren wirklich seitenlang über die tiefere Bedeutung eines Kimono-Musters auslassen, das eine Hofdame für ein Rendezvous gewählt hatte. Beliebte Freizeitbeschäftigungen waren Düfteraten, Blumenstecken und Mondgucken. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit war wichtiger als der Blick in die Zukunft, denn die Kulturen Ostasiens sahen die Welt als geordnetes, symmetrisches System, in dem die Geschichte sich stets wiederholt. Ganz anders eben als die westlichen Kulturen mit ihrer Erwartung der Apokalypse und ihrer Gier nach Entwicklung, Steigerung, Wachstum, Rekorden, Höchstleistungen.
Die Konkurrenz mit dem Westen hat Japan einiges von seiner heimeligen Atmosphäre genommen. (Für das einfache Volk war’s übrigens ohnehin nicht so toll. Ein Samurai durfte straflos einen Bauern köpfen, um ein neues Schwert auszuprobieren.) Die Betonung von Kreisläufen, von menschlichen Beziehungen, von Ästhetik ist ganz klar die Arbeit der rechten Gehirnhälfte. Eine stärkere Aktivierung der rechten Gehirnhälfte würde auch die hohe Aufmerksamkeit der Japaner im persönlichen Umgang erklären. »Geistverteilung«,
nennen sie das. Mit der rechten Seite des Hirns versetzen wir uns in andere Menschen hinein. Wer guten Zugriff darauf hat, merkt beispielsweise schneller, dass dem Gast am Tisch die Sojasoße zu weit weg steht - auch wenn der vor lauter Höflichkeit nicht danach zu fragen wagt.
Nippon scheint außerdem weiblicher zu sein als der Westen. Kein Wunder, schließlich klappt bei Frauen die Verständigung zwischen den beiden Gehirnhälften besser. Die moderne japanische Kultur erlaubt es Frauen immer noch, femininer zu sein als westliche Frauen. Das spiegelt sich auch in der Kleidung wider: Rüschen, Applikationen, unpraktische Röcke und Schühchen. Der Otto-Versand muss in Japan völlig andere Damenkleidung ins Programm nehmen. Der Japan-Chef des Unternehmens erklärte mir: »Deutsche Frauen wollen sportlich wirken, japanische Frauen niedlich.«
Die Fähigkeit, immer auch das große Ganze im Blick zu behalten, macht die Japaner auch enorm großzügig. Wenn es ans Bezahlen im Restaurant geht, sehen sie nicht nur die Rechnung. Gerade wenn ein Ausländer dabei ist, spielen plötzlich auch die globalen Beziehungen eine Rolle. Für Anfänger ist es daher schwer, mal mit dem Bezahlen zum Zuge zu kommen.
Wenn ich als Korrespondent Gesprächspartner einlade, vereinbare ich möglichst schon beim Hineingehen mit den Leuten vom Restaurant, dass ich hinterher auch bezahle. Der Witz daran ist, dass die Japaner sich gerne einladen lassen. Sie zieren sich bloß so schrecklich.
In meinen ersten Wochen als Korrespondent bedeutete
es einen Erfolg, zum ersten Mal eine Rechnung zu erobern, obwohl ich nicht selbst reserviert hatte. Nachdem der Kellner das kleine Clipboard mit dem Kassenstreifen auf den Tisch gelegt hatte, behielt ich es fest im Auge. Ich legte meine Hand entspannt in eine gute Startposition für den Zugriff. Als mein Gegenüber, ein Beamter des Finanzministeriums, nur leicht mit dem Handgelenk zuckte, schoss mein Arm vor und schnappte die Rechnung. Ich warf meinem Gesprächspartner auf dem Weg zur Kasse einen triumphierenden Blick zu, und er nickte anerkennend zurück.
Dadurch dass Japaner so auf »Geistverteilung«, also Umsicht, gedrillt sind, geben sie dem Ausländer auch Rätsel auf. Beim Verlassen des heißen Bades scheint sich keiner abzutrocknen. Doch im Umkleideraum steht auch nie jemand triefend da. Eine Weile fragte ich mich, ob japanische Haut das Wasser besser abweist. In Wirklichkeit trocknen sie sich mit ihren winzigen Handtüchern so unauffällig und nebenbei ab, als wäre es unanständig, sich richtig abzurubbeln.
Ähnlich liegt das Grüntee-Paradoxon. Überall im Land verkaufen Hunderttausende von Getränkeautomaten täglich Millionen von Getränkeflaschen, hauptsächlich mit grünem Tee. In der Öffentlichkeit lässt sich aber kaum jemand beim Trinken erwischen. Vermutlich schließen die Japaner sich nachts im Klo ein, um die Flaschen zu leeren.
Dass Japaner immer das große Ganze sehen, verwirrt westliche
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