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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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nicht unterkriegen lassen.
    Uchida arbeitet professionell als Revolutionär. Normale Bürger engagieren sich dagegen kaum in Parteien, Organisationen oder Vereinen. Ein Politikwissenschaftler erklärte mir das Phänomen. Protest gelte als individualistisch, und Individualismus verwechselten die Japaner mit Egoismus, der wiederum überhaupt nicht gut ankommt. Greenpeace zählt in Deutschland über eine halbe Million Fördermitglieder. In Japan sind es weniger als 5000.

    So sicher und sauber Japan oberflächlich wirkt - dahinter versteckt das Land eine Reihe von ernsten Problemen. Auf der Durchreise bekommen Besucher noch am ehesten etwas von dem stetig wachsenden Heer der Obdachlosen mit. Am Bahnhof Shibuya müssen die Fußgänger immer mehr Pappkartons ausweichen, in denen Menschen wohnen. In einer Unterführung an der Ostseite nisten besonders viele von ihnen, weil Ventilatoren hinter schwarz verkrusteten Gittern die warme Abluft des Kaufhauses Tokyu hier hineinblasen. Unter den Kartons sind braunfleckige alte Decken zu erkennen, in die sich die Bewohner einwickeln. Auf den Kartons liegen Plastikplanen, um sie etwas mehr gegen das schleimige Wasser abzudichten, das von den Gleisen herabtropft. Nur wenige Meter weiter auf einer Fußgängerbrücke zelten weitere Clochards. Auch sie stapeln ihre wenigen Habseligkeiten in Kartons um sich. Seit der Wirtschaftskrise sitzen ganz offensichtlich mehr Leute auf der Straße als vorher.
    Meine Bekannte Petra war bei ihrem Besuch erstaunt gewesen, als sie die ersten Obdachlosen gesehen hatte. Geblendet von der Pracht der Ginza und der Schönheit der Gärten hatte sie Tokio solche Armut gar nicht zugetraut.
    Für Recherchen versuchte ich, näher an Japans Arme heranzukommen. Dabei half mir ein Journalist von Nippon Television, der Filmbeiträge zu diesem Thema machte. Fast alle der Armen reagierten überraschend offen auf den deutschen Journalisten. Die Benachteiligten fühlen sich von der Gesellschaft wenig beachtet. Aufmerksamkeit aus dem Ausland kann da nur nützen. Der TV-Journalist stellte mich einem ehrenamtlichen Sozialarbeiter vor, der Ken hieß. Mit
Ken ging ich durch die »Slums von Minami Senju«, wie die Medien das Ufer des Sumida-Flusses bereits nennen.
    Wenn Japaner einen Slum bauen, dann stehen die Papphütten in Reih und Glied auf parallel ausgerichteten Holzpaletten, sie sind ordentlich mit blauen Planen abgedeckt, und der Polizist an der Straßenecke kennt die Namen der Bewohner. Die Obdachlosen ziehen ihre Schuhe aus und stellen sie penibel mit den Spitzen nach außen vor die Kante ihrer Holzpalette, bevor sie ihr Heim betreten. Das beruhigte mich ungemein: Die Japaner halten auch hier alles gut organisiert. Ken und ich hockten uns unter einer Brücke neben einen Mann mit einem weißen, struppigen Bart. Er lehnte auf einer Picknickmatte an der Betonwand. Vor sich hin streckte er seine Beine in einer alten Cordhose mit gelb verkrusteten Flecken. Er trug an einem Fuß eine löchrige Socke. Am anderen Fuß trug er gar keine, doch der Fuß war so schwarz vor Dreck, dass er fast genauso aussah wie der mit Strumpf.
    Der Obdachlose hieß Matsui-san. Er war nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber er erzählte gerne von früher, als er noch ein Angestellter gewesen und jeden Morgen im Anzug mit Krawatte ins Büro gefahren war. Seine Firma war vor zehn Jahren pleite gegangen. Sein Lebensinhalt war weg, er hatte es im Bein und litt an Schizophrenie, erzählte er und kratzte sich immer wieder an einem Ekzem am Hals. Seine Frau zog mit den Kindern aus. Matsui-san fing schon morgens an zu trinken, konnte die Miete nicht bezahlen, irrte durch Tokio und baute sich irgendwann seine erste Papphütte.
    »Mein Nachbar hier, der hat es gut«, sagte er und zeigte auf den nächsten Karton einige Schritte weiter. »Der hat sogar einen Aushilfsjob und verdient 150 000 Yen im Monat.«
Das sind etwa 1200 Euro - ein Betrag, mit dem ein Bewohner Berlins problemlos einen Monat lang über die Runden kommt -, in Tokio viel zu wenig für ein würdevolleres Leben. Von dem Luxus-Obdachlosen waren jedoch nur die Beine zu sehen und ein Schnarchen zu hören.

    Über Bekannte von Bekannten lernte ich auch Leute kennen, die noch nicht richtig auf der Straße saßen, aber schon einigermaßen tief unten angekommen waren. Ich verbrachte einige Nachmittage im Gemeinschaftsraum eines Gästehauses, dessen Bewohner mich dann irgendwie tolerierten. »Guest Houses«, Gesuto Hausu, vermieten winzige Zimmer mit

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