Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Fernseher und Internetzugang an Leute, die in Billigjobs schuften oder sonst wie nur wenig von echter Not entfernt sind. Nach und nach lernte ich fast alle der jüngeren Bewohner und ihre Nöte kennen. Tsuyoshi, 24 Jahre alt, lachte viel und erzählte besonders anschaulich aus seinem Leben. Ich machte ihn zum Thema einer Reportage. Er bezeichnete sich als »Freeter«, das steht für »Free Arbeiter« - Billigjobber ohne Festanstellung und richtige Wohnung.
Bevor Tsuyoshi ins Guest House eingezogen war, hatte er mal da, mal dort geschlafen. »Wenn das Geld auch fürs Internetcafé nicht gereicht hat, bin ich im Park geblieben und ging frühmorgens zu McDonald’s. Mit einem Frühstücksset für 500 Yen habe ich mich dann noch zwei Stunden ausgeruht und den Kopf auf die Tischplatte gelegt.«
Immerhin, für 500 Yen musste er fast eine Stunde arbeiten. Ob McDonald’s einen nicht rausschmeißt?
»Nein, viele von denen haben ein Herz. Einmal, das war ganz lustig, hatte ich einen Job bei McDonald’s in Shinjuku,
aber keine Wohnung. In der Zeit habe ich mich in der nächsten Filiale an der Chuo-Straße ausgeruht und bin dann zum Jobben wieder in die Shinjuku-Straße rübergegangen. Klar habe ich als Angestellter an der Chuo-Straße die Schnarcher auch ewig in Ruhe schlafen lassen.« Er lachte laut über die eigene Geschichte.
Als wir dieses Gespräch führten, ging es Tsuyoshi ganz gut. Er arbeitete bei einer Buchhandelskette und konnte sich weiter das Zimmer bei der Kette »Tiger House« im Stadtteil Kanda für weniger als 400 Euro im Monat ganz gut leisten. Seine Aussicht auf eine Vertrags- und dann Festanstellung zerschlug sich allerdings mit Beginn der Wirtschaftskrise. Er verlor den Job und arbeitete dann wieder in einem Convenience Store. »Ich mache ständig Schichten zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr morgens. Eine richtige Unterkunft brauche ich fast nicht mehr«, scherzte er. Seine Mitbewohner im Guest House waren ebenso respektable Menschen. Sie redeten sich gegenseitig mit ihrer Zimmernummer plus »san« an. Das Mädchen neben Tsuyoshi, 201-san, hatte einen Bachelor von einer guten Uni und sogar wie Akiko in den USA studiert. Doch sie fand in der Krise keinen Job. Ähnlich ging es 304-san, dem Jungen vom Stockwerk drüber. Er hatte ebenfalls einen Uni-Abschluss, seine Firma hatte jedoch seinen befristeten Anfängervertrag schon zu Beginn der Wirtschaftskrise nicht verlängert. Wenn selbst Uni-Absolventen auf dreieinhalb Quadratmetern mit Münzdusche wohnten und keinen Job fanden, dann sah es für Tsuyoshi schwierig aus. Die ungefähr gleichaltrigen Bewohner Anfang zwanzig standen öfter am Treppenabsatz zusammen und klönten über den Arbeitsmarkt. Andere Bewohner dieser Filiale von
»Tiger House« redeten dagegen nicht miteinander. Der Salary Man mit der Zimmernummer 407 zog sich eher zurück. »407-san geht jeden Morgen im Anzug aus dem Haus«, sagte 304-san bei einer Zusammenkunft auf dem Treppenabsatz. »Aber geht er auch zur Arbeit?«
»Schscht«, machte 201-san. »Du bist unhöflich! Du weißt doch, wie dünn unsere Türen sind.«
Auch Tiger House wirkte komplett sauber und ordentlich, und alle hielten sich an die zahllosen Regeln, die im Erdgeschoss angeschlagen standen.
Viele japanische Sozialfälle nehmen sich das Leben. Mir scheint es fast so zu sein, dass die Gesellschaft ein wenig damit rechnet, die Leute, die nicht hineinpassen, würden sich auf diese Weise selbst entsorgen. Im Jahr 2008 haben sich in Japan 32 249 Menschen umgebracht. Im weltweiten Selbstmord-Ranking der OECD liegen Japans Frauen auf Platz zwei, und insgesamt kommt das Land auf den dritten Platz nach Korea und Ungarn. In der Tokioter U-Bahn hängen zwar Poster der Stadtregierung: »Wenn du nicht mehr weiterweißt - ruf doch an!«, doch Experten bezweifeln, ob eine Hotline viel bringt. Nicht weit von Tokio, am Fuße des Bergs Fuji, gibt es den Wald Aokigahara, in dem sich jähr - lich etwa fünfzig Menschen umbringen. Die Regierung hat dort bereits Schilder aufstellen lassen, mit denen sie die Verzweifelten zum Umdenken auffordern will - der Erfolg hält sich jedoch offensichtlich in Grenzen.
Dass hinter Japans reicher Konsum- und Geschäftswelt eine Unterwelt der Obdachlosen existiert, hat mich zunächst schockiert. Wie kann ein hoch entwickeltes Land seine Benachteiligten
so allein lassen? Japan gilt in der westlichen Wirtschaftswissenschaft schließlich als eine Art sozialistisches Land, wo jeder einen Arbeitsplatz hat
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