Tokio Vice
Café, bestellten grünen Tee und er fragte mich, was ich bei der Yomiuri tun wolle.
»Ich interessiere mich für Enthüllungsjournalismus und für die Seite Japans, von der ich nicht viel weiß«, erklärte ich, »für die Schattenseite, die Unterwelt.« Ich erzählte ihm, dass mein Vater Gerichtsmediziner sei und mich Verbrechen und die Polizei schon immer fasziniert hätten.
Daraufhin empfahl er mir shakaibu , die Gesellschaftsredaktion, die für nationale Nachrichten und Kriminalität zuständig ist. »Das ist die Seele der Zeitung«, meinte er. »Alles andere ist nur das Fleisch auf den Knochen. Aber wir sind die Vertreter des echten Journalismus, der die Welt verändern kann.«
Als ich ihn um ein paar Tipps für meine Karriere als Journalist bat, schwieg er zunächst eine Weile. Er roch ein wenig nach Sake, als er zu sprechen begann, und später erfuhr ich, dass er an diesem Morgen bis fünf Uhr getrunken hatte. Jetzt war es neun Uhr, und wahrscheinlich hätte er nicht so offen geredet, wenn er total nüchtern gewesen wäre.
»Zeitungsjournalismus ist keine höhere Mathematik«, sagte er dann. »Das Muster steht fest. Man hält sich an das Muster und baut darauf auf. Das ist wie in einem Kampfsport. Sie lernen eine Übung, die Sie ständig wiederholen, und verinnerlichen so die grundlegenden Bewegungen. Genauso ist es bei uns. Es gibt etwa drei oder vier
Arten, über Gewaltverbrechen zu schreiben. Sie müssen sich den Stil einprägen, Lücken füllen und Fakten ermitteln. Der Rest kommt von selbst. Ein guter Reporter muss acht Regeln einhalten, Jake.
Erstens: Geben Sie nie Ihre Quellen preis. Wenn Sie Ihre Informanten nicht schützen, traut Ihnen niemand mehr. Alle Knüller basieren darauf, dass die anonym bleiben, von denen Sie die Informationen erhalten haben. Das ist das A und O des Journalismus. Ihr Informant ist Ihr Freund, Ihre Geliebte, Ihre Ehefrau und Ihre Seele. Wenn Sie Ihre Quelle verraten, verraten Sie sich selbst, dann sind Sie kein Journalist, nicht einmal ein richtiger Mann.
Zweitens: Schreiben Sie einen Artikel so schnell wie möglich. Denn Nachrichten sind kurzlebig. Wenn Sie eine Chance verpassen, ist die Geschichte vielleicht schon tot oder der Knüller ist geplatzt.
Drittens: Glauben Sie niemandem. Menschen lügen, Polizisten lügen, sogar Ihre Kollegen lügen. Gehen Sie davon aus, dass Sie belogen werden, und seien Sie vorsichtig.
Viertens: Besorgen Sie sich jede Information, die Sie kriegen können. Menschen sind gut und schlecht, Informationen nicht. Bei Informationen spielt es keine Rolle, wer sie Ihnen gibt oder wie Sie sie erlangt haben. Wichtig sind nur ihre Qualität und ihr Wahrheitsgehalt.
Fünftens: Sie brauchen ein gutes Gedächtnis und eine gewisse Ausdauer. Was die Leute verdrängen, sucht sie manchmal in ihren Träumen heim. Was ein unbedeutender Fall zu sein scheint, kann sich später zu einem Knüller entwickeln. Behalten Sie die laufenden Ermittlungen und deren Fortgang im Auge. Lassen Sie sich nicht von dem steten Strom neuer Nachrichten von den noch offenen Geschichten ablenken.
Sechstens: Sichern Sie Ihre Artikel dreifach ab, vor allem wenn sie nicht auf offiziellen Verlautbarungen der Behörden beruhen. Wenn Sie die gleichen Informationen aus drei verschiedenen Quellen erhalten, sind sie wahrscheinlich echt.
Siebtens: Schreiben Sie den Text wie eine umgekehrte Pyramide. Redakteure kürzen von unten nach oben. Was wichtig ist, steht oben, die banalen Details stehen unten. Wenn Ihr Artikel es bis in die Ausgabe schaffen soll, muss er leicht zu kürzen sein.
Achtens: Lassen Sie nie Ihre persönliche Meinung in einen Artikel einfließen. Überlassen Sie das anderen, Experten oder Kommentatoren. Objektivität ist subjektiv.
Das ist alles.«
Das Ganze war ein erstaunlich offener Ratschlag von einem Mann, der als eher hinterlistig galt. Immerhin hatte Inoue einige Male mit harten Bandagen kämpfen müssen, um es so weit zu bringen. Zunächst war er Regionalreporter gewesen, also quasi ein Bürger zweiter Klasse, denn die wanderten von einem Regionalbüro zum anderen, ohne jemals mehr als ein paar Jahre im Hauptbüro zu verbringen. Deshalb konnten sie auch nicht über die großen Ereignisse schreiben oder in Tokio Karriere machen. Doch Inoue hatte das System überlistet. Irgendwie war es ihm gelungen, in die Landesredaktion aufzusteigen und in den Presseclub der Tokioter Polizei aufgenommen zu werden.
Wie jeder Yomiuri -Mitarbeiter wusste er, dass die Abteilung
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