Tokio Vice
für nationale Nachrichten der richtige Platz für einen angehenden Enthüllungsjournalisten war. Aber es war schwer, dort einen Job zu bekommen, und ihn zu behalten war noch schwerer. Es hieß, dass diese Reporter am längsten arbeiteten, am meisten tranken, am häufigsten geschieden wurden und am frühesten starben. Ich weiß nicht, ob diese Behauptungen jemals statistisch erhärtet wurden, aber fast alle früheren und jetzigen Reporter in dieser Abteilung legen einen beinahe masochistischen Stolz auf ihren Status an den Tag.
Nach drei Tagen beim TMPD schickte man mich für zwei Tage in das Büro nach Chiba. Der Bürochef hieß Kaneko. Er hatte früher in der überregionalen Redaktion gearbeitet und war TMPD-Chefreporter gewesen. Das Büro war sauber und modern, es gab zwei Schreibtischgruppen sowie mehrere Faxgeräte auf Regalen, und alle Akten standen fein säuberlich in chronologischer Reihenfolge in Bücherregalen – das genaue Gegenteil des TMPD-Presseclubs.
Kaneko empfing mich herzlich. Er interessierte sich sehr für meine jüdische Herkunft. Wir setzten uns auf ein Sofa und er begann mich auszufragen, bis er schließlich die Frage stellte, die ihn wirklich interessierte: »Sprechen Sie Hebräisch?«
Als ich verneinte, schien er enttäuscht zu sein. Daher fragte ich ihn, warum das für ihn wichtig war.
»Nun ja, auf den Straßen beim Bahnhof gibt es eine Menge Israelis, die Armbanduhren, Schmuck und Markenwaren verkaufen – natürlich alles gefälscht«, antwortete er. »Und ich vermute, dass sie der Yakuza Schutzgeld zahlen müssen.«
Damals wusste ich noch nicht viel über die Yakuza, nur dass sie Gangster waren und manchmal Gewalt anwendeten.
Kaneko bot mir eine Zigarette an, während er weitersprach.
»Da Sie ein gaijin sind, könnten Sie vielleicht mit ihnen reden und etwas herausfinden. Interessant wäre, welchen Anteil die Yakuza bekommt und wie der Handel abgeschlossen wird. Was meinen Sie?«
Natürlich war ich begeistert.
Nun rief Kaneko einen Reporter namens Hatsugai zu sich und ernannte ihn zu meinem Redakteur. Ich bekam einen Füller, einen Notizblock und einen Kassettenrekorder, und 30 Minuten nach meiner Ankunft im Büro wurde ich schon losgeschickt.
Die Straßenverkäufer standen überall, vor allem in der Nähe des Bahnhofs. Die meisten von ihnen waren anscheinend Israelis auf Asienreise, und sie verkauften Waren, die sie in Nepal oder Tibet erstanden hatten. Einige hatten gefälschte Markenuhren und Handtaschen aus Thailand. Ich setzte mich in einen Mister-Donut-Imbiss gegenüber von einem Verkäufer und begann mit meiner Überwachung.
Nach zwei Tagen und vielen Donuts sah ich zwei Japaner in weißen Hosen, grellen bedruckten Hemden und mit Dauerwelle, die auf einen israelischen Verkäufer zugingen. Es waren eindeutig Ganoven. Einer von ihnen war groß und hatte eine breite Stirn, aber der Kleine ging voraus. Sofort verließ ich die Imbissstube und schlenderte an ihnen vorbei.
Die beiden stellten sich an die Seiten des Tisches des Händlers,
und ich konnte hören, wie der kleinere Gangster vier oder fünf
Worte zu dem Israeli sagte. Ein Wort war shobadai , das ich noch
nie zuvor gehört hatte. Der Händler murmelte etwas auf Hebräisch, zog ein Banknotenbündel aus einer Schublade und überreichte es dem kleinen Japaner. Dieser gab es an seinen größeren Kollegen weiter, der die Geldscheine ganz dreist in aller Öffentlichkeit zählte, dann einsteckte und den Händler dann mit seinen Waren allein ließ.
Nun ging ich zu dem Israeli, betrachtete seinen Schmuck und sagte mitfühlend: »Ich wusste gar nicht, dass Sie für einen Straßenstand Miete zahlen müssen.«
Der Mann warf seinen Pferdeschwanz zurück und sah mich misstrauisch an. Dann entspannte er sich, da er mich wohl für einen Landsmann hielt. »Ich muss zahlen, damit die Bullen oder diese Kerle mich in Ruhe lassen. Sie kriegen 35 Prozent von allen meinen Einnahmen.«
»Aber woher wissen die denn, was Sie einnehmen?«
»Sie sehen, was auf dem Tisch liegt und wissen genau, was fehlt, wenn sie wiederkommen. Man kann sie nicht reinlegen.«
»Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«
»Mann, Sie müssen hier neu sein. Ich habe ein Touristenvisum, und wenn ich zur Polizei gehe, dann lande ich im Knast. Das wissen die Yakuza, und ich weiß es auch. So ist es eben, wenn man hier
Geschäfte machen will. Man hat keine Wahl.«
»Mist!«, sagte ich. »Ich wollte eigentlich auch in dieses Geschäft einsteigen. Ich habe keine Lust
Weitere Kostenlose Bücher