Tokio Vice
zu Sekiguchi. Ich fühlte mich fast wie in der alten Zeit, aber es war anders. Ich trug einen schwarzen Anzug, den ich mitgebracht hatte, und eine schwarze Krawatte, die ich von Sunaos Mutter ausgeliehen hatte.
Ich weiß, dass Beerdigungen und Totenwachen sinnlose Rituale sind – aber nicht für die Hinterbliebenen. Ich hatte Sekiguchi versprochen, zu seiner Beerdigung zu gehen, dabei einen guten Anzug zu tragen und, wenn möglich, passende Socken anzuziehen. Ich schuldete ihm daher zumindest ein Räucherstäbchen. Man sollte meinen, dass es jedem klar ist, dass manche Versprechen über den Tod hinaus gelten. Zu den wenigen Dingen, die ich in meinem Leben bereue, gehört, dass ich nicht bei seiner Beerdigung war, obwohl ich es versprochen hatte.
Sein Leichnam war schon im Haus, als ich ankam. Er war nicht nach buddhistischer Sitte aufgebahrt, wie es in Japan üblich ist, sondern sollte ein Shinto-Begräbnis erhalten. Darum lag er auf einem Futon im Wohnzimmer. Mit Shinto-Ritualen kannte ich mich nicht aus. Es war eine neue Erfahrung.
Sekiguchi hatte mir mehr über das Schreiben von Berichten, über Verhöre, Ehre und Vertrauen beigebracht als alle anderen Leute, die ich je gekannt hatte. In gewisser Weise war er mein zweiter Vater. Ich hatte ihm meine Tochter gezeigt, noch ehe ich sie zu meinen Eltern gebracht hatte. Noch im Tod lehrte er mich also etwas über Japan.
Es war seltsam, ihn so auf dem Tatami-Boden liegen zu sehen. Sie zogen das weiße Tuch weg, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Er schien zu lächeln. Es war das gleiche süffisante Grinsen, das er aufzusetzen pflegte, wenn er mir ein paar Informationsbrocken hinwarf, einen schlechten Witz riss oder wenn ich wieder mal eine Wette
verloren hatte.
In den vergangenen Monaten hatte er große Schmerzen gehabt. Selbst Morphium half ihm nicht mehr. Der Krebs wütete in seinem ganzen Körper. Eine Zeitlang war er ins Ariake Cancer Institute in Odaiba gegangen, das etwa drei Stunden von seinem Haus in Saitama entfernt war. Dort wurde er ambulant behandelt. Nachdem man ihn mit Chemikalien und Strahlung traktiert hatte, musste er noch im Zug zurückgefahren, manchmal in der Stoßzeit, wenn es keine Sitzplätze gab.
Ich bestand darauf, dass er nach der Therapie im »Hotel Grand Pacific Le Daiba« in der Nähe der Klinik abstieg und wollte die Rechnung bezahlen. Denn er brauchte Ruhe, bevor er heimfuhr. Natürlich protestierte er und weigerte sich, da er so ein Geschenk als Polizist – es war kaum zu glauben, aber er arbeitete immer noch – nicht annehmen könne. Daher behauptete ich, dass ich für eine Firma arbeitete, der das Hotel gehörte, und das Zimmer kostenlos mieten konnte.
Das war natürlich gelogen. Und ich denke, er wusste, dass es eine Lüge war und dass ich wusste, dass er es wusste. Aber nur so konnte er mein Geschenk akzeptieren, was mir wirklich wichtig war. So ist das eben in Japan. Es gibt ein bestimmtes öffentliches Image, tatemae , eine Fassade, die man aufrechterhalten muss, und es gibt das, was tatsächlich passiert. Mit diesem Trick war ihm und mir gleichermaßen geholfen. » Uso mo hoben « – auch Lügen können eine schlaue Taktik sein – lautet ein Sprichwort aus einem buddhistischen Sutra.
Dieses Sutra erzählt die Geschichte von einigen Kindern, die in einem Haus spielen. Als es anfängt zu brennen, besteht die Gefahr, dass die Kinder verbrennen, wenn sie nicht hinauslaufen. Weil das Spiel ihnen gerade so großen Spaß macht, wollen die Kinder aber das Haus nicht verlassen. Draußen schreien Leute, dass sie herauskommen sollen, aber sie wollen nicht, und die Tür ist von innen versperrt. Da verspricht ihnen jemand köstliche Bonbons, wenn sie herauskommen. Das ist zwar eine Lüge, aber sie lockt die Kinder aus dem Haus, und sie sind gerettet.
Uso mo hoben. Manchmal ja.
Ich wusste, wie ich mich bei einer buddhistischen Beerdigung zu verhalten hatte, aber in diesem Fall war ich ratlos. Daher tat ich, was Frau Sekiguchi mir sagte: Ich gab ihm Wasser und verbeugte mich. Dann legte ich eine Zigarette auf den Tisch mit Speisen, der neben ihm stand.
Nicht die Zigaretten waren an seinem Krebs schuld. Es war ein Verrat. Denn ein Kollege hatte ihn vor ein paar Jahren bei einer Zeitung verleumdet, weil er ihm seinen Erfolg neidete.
Sekiguchis »Verbrechen« hatte darin bestanden, dass er einem Yakuza die Handschellen abgenommen hatte, damit er eine Schale Nudeln essen konnte. Erst danach hatte er ihn ins Revier gebracht, wo er
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