Tokio Vice
werden, reden sie nicht, und sie werden einfach ausgewiesen. Wenn Sugaya entlassen wird, wird er keine Organisation mehr finden, in die er zurückkehren könnte, keinen Ort, an dem man sein ehrenvolles Verhalten würdigen würde.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Heute geht es doch nur noch um Geld. Treue zum oyabun, Ehre, Ausdauer, Verpflichtungen – das alles zählt nicht mehr viel. Die Kokusui-kai, auf deren Leute Sugaya geschossen hat, gehört jetzt zu uns. Voriges Jahr haben wir uns vereinigt. Jetzt sind wir also in Tokio. Bald werden wir das ganze Land beherrschen. Aber ich glaube nicht, dass das eine gute Sache ist.«
Ich war ein wenig verdutzt. »Sie sind doch selbst ein Yakuza. Sind Sie nicht stolz auf Ihre Organisation?«
Er lachte. »Vielleicht war ich mal stolz, Mitglied zu sein. Aber wenn das Ende naht, denkt man anders. Man beginnt sich zu fragen, ob alles richtig ist, was man für selbstverständlich gehalten hat. Die Organisation, der ich beigetreten bin, ist nicht mehr wie früher. Sie ist zu groß geworden, und darum hat sie vieles nicht mehr im Griff. Viele Yakuza kennen keine Regeln mehr, sie respektieren normale Bürger nicht mehr, sie respektieren gar nichts mehr. Sie sind in allen möglichen Mist verwickelt. Besonders die Goto-gumi.«
»Ist es wirklich schlimmer als früher?«, fragte ich.
Er schwieg eine Weile, legte die Hände auf die Knie und holte tief Luft. »Vielleicht war es schon immer so«, seufzte er dann, »ich weiß es nicht. Ich habe in meinem Leben viel Böses getan, aber manches habe ich auch richtig gemacht. Ich habe nie den oyabun betrogen, ich habe nie einen Freund hintergangen, und ich bin nie einem Kampf ausgewichen. Das ist vielleicht nicht viel, aber das sind meine Werte.«
»Das sind wichtige Tugenden.«
»Allerdings. Also, was möchten Sie wissen?«
»Ich habe zwei Fragen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie sie nummerieren sollen. Fragen Sie einfach.«
»Ich vermisse eine Freundin. Ich habe sie seit einigen Monaten nicht mehr gesehen.«
»Wie heißt sie?«
»Helena.«
»Haben Sie ein Foto?«
Ich gab ihm eines. Er betrachtete es, dann sah er mich an.
»Ich brauche Einzelheiten.«
Also weihte ich ihn ein, sagte ihm, wer sie war und worum ich sie gebeten hatte. Er zuckte ein wenig zusammen, als ich die Goto-gumi und die Tarnorganisation erwähnte, murmelte etwas und bedeutete mir, zu ihm ans Fenster zu kommen. Da ich ihn kaum hören konnte, beugte ich mich vor.
Dann schlug er mir mit solcher Wucht ins Gesicht, dass ich umfiel und auf dem Hintern landete. In meinen Ohren dröhnte es so laut, dass ich fürchtete, eines könne taub geworden sein. Dann stand er auf, schaute mich finster an und bedeutete mir mit der Hand, aufzustehen. Obwohl er etwas schwer atmete, schien es ihm gut zu gehen, was man von mir nicht behaupten konnte.
»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«, schrie er mich an.
»Ich wusste das nicht.«
»Das hätten Sie wissen müssen. Sie sind doch kein Kind mehr, sondern ein Mann. Sie hätten sie niemals bitten dürfen, sich um diese Organisation zu kümmern. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Verdammt noch mal, Shibata. Ich habe ihr ja gesagt, dass sie aufhören soll.«
»Und Sie hätten wissen müssen, dass sie nicht aufhören würde. Sie hatten diese Frau gern, vielleicht mehr als das, und sie hatte Sie gern. Warum also sind nicht Sie dieses Risiko eingegangen? Manchmal sind Sie so verdammt clever, Jake-san, und manchmal so ein schrecklicher Idiot.«
Er reichte mir die Hand und half mir auf. Sein Griff war stark. Dann setzte er sich wieder.
»Ich werde mich umhören. Ich glaube nicht, dass Sie die Antworten bekommen werden, die Sie haben wollen, aber ich werde fragen. Was wollen Sie sonst noch wissen?«
»Ich weiß, dass Goto nicht der Einzige war, der sich in Amerika eine neue Leber hat einpflanzen lassen. Da gab es wohl noch andere, und ich hätte gerne einige Namen.«
Shibata schüttelte den Kopf und starrte ein paar Minuten auf den Boden. Dann hob er den Kopf und schaute mir in die Augen. Ich weiß nicht, was er da sah, aber er nickte wieder.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, und ich halte das nicht für klug. Aber ich verstehe es. Sind Sie sicher, dass Sie damit weitermachen wollen? Es ist kemono no michi .«
» Kemono no michi? «
»Manchmal legen Tiere in den Bergen Pfade an, indem sie denselben Weg immer wieder benutzen. Wenn Sie nicht wissen, was das ist, könnten Sie glauben, dass Menschen den Pfad
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