Tokio Vice
kleine Bar in Ginza. Aus den Lautsprechern in der Decke tönte John Coltrane, und die Marmortische und die Bar glänzten so, dass sogar das gedämpfte Licht in ihnen funkelte. Es war ein schönes Lokal, nicht die übliche Kneipe, die Yomiuri -Reporter sonst anlockte.
Ich bestellte Cola und begann zu schwärmen, wie sehr ich mich darauf freue, einem Büro zugewiesen zu werden und das Handwerk von Grund auf zu lernen.
Doch Matsuzaka unterbrach mich gleich mit einer Geste. »Hier geht es nicht ums Lernen, sondern ums Verlernen. Sie müssen alte Verbindungen kappen, Gewohnheiten aufgeben, Vorurteile überwinden, alles vergessen, was Sie zu wissen glauben. Das ist das Erste, was Sie lernen werden. Wenn Sie ein hervorragender Reporter sein wollen, müssen Sie Ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Sie müssen Ihren Stolz, Ihre Freizeit, Ihre Hobbys, Ihre Vorlieben und Ihre Meinungen aufgeben.
Wenn Sie eine Freundin haben, wird sie Sie verlassen, sobald Sie keine Zeit mehr haben, und Sie werden sehr wenig Zeit haben. Ihren Stolz müssen Sie ablegen, weil alles, was Sie zu wissen glauben, falsch ist.
Sie müssen freundlich zu Leuten sein, die Sie aus politischen, gesellschaftlichen oder moralischen Gründen nicht mögen. Sie müssen sich den höhergestellten Reportern fügen. Sie dürfen nicht über Leute urteilen, sondern müssen lernen, den Wert der Informationen zu beurteilen, die sie Ihnen geben. Sie haben weniger Zeit, um zu schlafen, Sport zu treiben oder Bücher zu lesen. Ihr Leben wird sich darauf beschränken, die Zeitung zu lesen, mit Ihren Informanten etwas zu trinken, die Nachrichten anzuschauen, zu überprüfen, ob jemand Ihnen zuvorgekommen ist, und Termine einzuhalten. Sie werden mit Arbeit überschwemmt sein, die Ihnen sinnlos und dumm erscheint, aber Sie werden sie trotzdem erledigen.
Sie werden lernen, nicht die Wahrheit zu suchen, die Ihnen am liebsten wäre, sondern die echte Wahrheit, und Sie werden sie so formulieren, wie sie ist, nicht so, wie Sie es gerne hätten. Es ist ein wichtiger Job. Journalisten sind die einzige Kraft in diesem Land, die die anderen Kräfte zügelt. Sie sind die obersten Hüter der zerbrechlichen Demokratie, die wir in Japan haben.
Lösen Sie sich von Ihren Vorurteilen, Ihrer Würde und Ihrem Stolz, und machen Sie Ihre Arbeit. Wenn Sie das schaffen, können Sie ein großartiger Journalist werden.«
Das alles sagte er ohne Pause in einem ganz ruhigen Monolog. Mir war klar, dass er lange darüber nachgedacht haben musste.
Aber er war noch nicht fertig.
»Und eines noch: Seien Sie vorsichtig, sonst verlieren Sie alles, was Ihnen wichtig ist, und sich selbst auch. Es ist ein heikler Balanceakt. Manche Leute geben alles für ihren Beruf auf, ohne davon zu profitieren. Diese Firma wird für Sie sorgen, solange Sie nützlich sind, und wenn Sie nicht gerade ein Verbrechen begehen, wird man Sie nie entlassen. Ihr Arbeitsplatz ist sehr sicher. Aber als Reporter sind Sie ein Verschleißteil. Wenn Sie nicht mehr nützlich sind, bleiben
Sie kein Reporter, dann müssen Sie etwas anderes machen. Ein
Reporter hat in diesem Unternehmen eine kurze Halbwertszeit. Genießen Sie Ihren Status, solange Sie ihn haben. Leben Sie einfach, verzichten Sie auf Dinge, die Sie nicht brauchen, aber sorgen Sie dafür, dass Sie etwas Wichtiges hinterlassen.«
Danach wechselte er abrupt das Thema und sprach über Baseball, einen Sport, über den ich trotz meiner amerikanischen Wurzeln
wenig wusste.
Ich war nicht zum ersten Mal davon überrascht, wie ernst die Leute bei der Yomiuri ihren Beruf nehmen. Japanische Journalisten gelten bei ausländischen Medien oft als kriecherische Büroarbeiter, aber das ist nicht ganz richtig.
Während ich noch über Matsuzakas Worte nachdachte und vorgab, bestens über amerikanische Freizeitbeschäftigungen Bescheid zu wissen, kam eine junge Reporterin zu uns, deren Einstellung Matsuzaka vor ein paar Jahren ebenfalls unterstützt hatte. Sie war ärgerlich, weil man sie aus einem Regionalbüro geholt hatte, nur um einige Monate lang am Layout mitzuarbeiten. Doch Matsuzaka erklärte ihr, dass dies ein Teil des Prozesses sei, den alle durchlaufen müssten, ehe sie in die Reporter-Oberliga aufsteigen dürften, eine Art Initiationsritual.
Dann schickte er uns im selben Mietwagen nach Hause. Die Yomiuri verfügte über eine eigene Autoflotte, die Reporter zu Interviews, Pressekonferenzen und manchmal auch nach Hause brachte. Als ich einstieg, meinte Matsuzaka:
»Jake,
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