Tokio Vice
Sie gehen nach Urawa. Das ist ein harter Job. Das Büro ist spartanisch eingerichtet und liegt im Herzen von Saitama. Aber es ist eine interessante Aufgabe, weil Sie die Chance haben, für die Landesausgabe zu schreiben. Und Sie werden eine Menge schreiben, Sie werden sehr beschäftigt sein.«
»Urawa? Ist das in der Nähe von Tokio?«
»Ganz in der Nähe. Aber wenn Sie dort sind, wird es Ihnen vorkommen, als läge Tokio auf der anderen Seite des Planeten. In Urawa sind alle extrem beschäftigt. Aber denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe. Geben Sie nicht auf. Wir setzen große Hoffnungen in Sie.«
Als wir nach Hause fuhren, erzählte ich Matsuzakas Schützling, dass man mich nach Urawa schicken werde. Ihre Antwort lautete:
» Goshushosama desu. « Diesen Ausdruck benutzt man auf Beerdigungen, um sein Beileid auszudrücken.
Saitama ist eine große, halb ländliche, halb vorstädtische Präfektur gleich außerhalb von Tokio, und Urawa ist eine riesige Wohnstadt, aus der müde Arbeiter in die Hauptstadt strömen.
Saitama. Ein Ort, den städtische Japaner so uncool finden, dass sie daraus ein Adjektiv gemacht haben: dasai , »nicht angesagt, langweilig«.
Los, ihr Flaschen,
packt eure Notizblöcke!
Dem Büro in Urawa eilte ein übler Ruf voraus. Ein Reporter, der früher einmal dort gearbeitet hatte, schrieb in der Zeitschrift Tsukuru einen vernichtenden Artikel mit dem Titel »Yomiuri Shimbun: drei Monate der Desillusionierung«. Und für den, dem das noch nicht reichte, gab es noch den Untertitel: »Enttäuschung, Verzweiflung, Leiden und zum Schluss die Entscheidung«.
Der Artikel beschrieb die endlose Reihe von banalen Aufgaben, die man dem Autor aufgezwungen hatte. Er musste sieben Tage in der Woche jeweils 24 Stunden lang zur Verfügung stehen. Ein Redakteur bekam einen Wutanfall, weil der Reporter ein kanji , ein chinesisches Schriftzeichen benutzt hatte, das nicht auf der offiziellen Liste der Zeitung stand. Er beschimpfte den jungen Mann und warf ihm eine Sandale an den Kopf. Um sechs Uhr abends stank das ganze Büro nach Sake, weil der Redakteur den Arbeitstag für beendet erklärte und dann immer eine Flasche öffnete.
In meinem ersten Jahr bei der Zeitung bestätigten sich diese Eindrücke teilweise. Doch das erste Jahr als Reporter ist in Japan ein ausgeklügeltes Initiationsritual, unterbrochen von einigen Arbeitseinsätzen. Wenn der Neuling die Zeit übersteht, geht es ihm ein wenig besser. Wer Glück hat, bekommt dann selbst neue Sklaven, die er herumschubsen kann, während er mehr Zeit hat, die Grundregeln des Journalismus zu entdecken.
Die Yomiuri hatte vor Kurzem beschlossen, ihre Truppen im Urawa-Büro zu verstärken, weil die ewige Konkurrentin, die Asahi , ihr Büro in Urawa ihrer shakaibu , also der Redaktion für Tokio und das Land, unterstellt hatte. Während unser Büro sich nur auf die mageren Ressourcen des Regionalbüros stützen konnte, standen der Asahi daher 100 Reporter zur Verfügung, die im Falle einer großen Story nach Saitama geschickt werden konnten. Deshalb hatte die Yomiuri sich dafür entschieden, die Arbeitskräfte aufzustocken.
Vier Frischlinge dienten in der Schlacht um Urawa als Kanonenfutter: Tsuji, Kouchi, Yoshihara und ich. In japanischen Firmen sind die Leute, die zeitgleich mit einem eingestellt werden, und vor allem jene, mit denen man seinen ersten Einsatz bestreitet, die familienähnlichste Gruppe, der man je angehören wird. Zwischen Kollegen, die doki sind, also »derselben Zeitphase« angehören, entsteht eine enge Bindung, die so lange besteht, wie sie in der Firma bleiben, oft sogar noch länger.
Ich hatte enormes Glück. Meine künftigen Kollegen gefielen mir auf den ersten Blick, als wir uns beim Yomiuri -Gelöbnis zum ersten Mal trafen – und sie schienen mich auch zu mögen.
Jun Yoshihara war 22, also zwei Jahre jünger als ich, und sah wie ein Popstar aus. Er hatte an der Universität Waseda Volkswirtschaft studiert, war groß, fit und so bleichgesichtig, dass er wie ein Europäer wirkte. Eine kurze Zeit lang nannten wir ihn »The Face« (das Gesicht), und in Gedanken nenne ich ihn heute noch so.
Naoki Tsuji oder »Frenchie« war 25, ebenfalls Waseda-Absolvent und hatte französische Literatur studiert. Von uns vieren war er der Intelligenteste. Er war immer tadellos frisiert, trug maßgeschneiderte Anzüge und las ständig irgendeinen unbekannten japanischen Roman oder ein französisches Meisterwerk. Er strahlte Geist und gute
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