Tokio Vice
Face« ihm flink gereicht hatte, die Brille abwischte. Ich verbeugte mich ausgiebig, um mich zu entschuldigen, aber da schlug mir auch Hojo mit seiner Serviette auf den Kopf und fragte: »Weißt du, wie man dieses Ding benutzt, du Idiot?«
Innerhalb weniger Sekunden war aus einer furchtbar peinlichen
Situation ein Scherz geworden. Sogar Ono amüsierte sich.
»Du bist wirklich ein mutiger gaijin «, meinte er, »ich kenne niemanden, der so etwas je getan und überlebt hat.«
Ich verbeugte und entschuldigte mich erneut, aber Ono machte eine wegwerfende Bewegung, als sei nichts geschehen. Er goss mir wieder Sake ein und befahl mir, auszutrinken.
Danach schleppte uns Shimizu in seinen Lieblingsclub, und ich kann mich nur noch daran erinnern, dass Ono laut Karaoke sang. Irgendwann schob mich jemand in ein Auto und schickte mich nach Hause.
Mein neues Apartment war klein und lag über einem traditionellen Teeladen mit Konditorei, fünf Minuten mit dem Fahrrad vom Büro in Urawa entfernt. 1993 wollten noch immer viele Leute nicht an Ausländer vermieten, aber die Firma hatte die Wohnung für mich besorgt und als Bürge unterschrieben. Das Wundervollste daran war das Badezimmer. In meinen fünf Jahren als College-Student in Japan hatte ich nie in einem Apartment mit eigenem Bad gewohnt. Deshalb musste ich entweder das öffentliche Bad oder eine Münzdusche benutzen. Fünf Minuten heißes Wasser für 100 Yen in der Münzdusche, 300 Yen für das öffentliche Bad.
Als ich meinen schmerzenden Körper in dieser Nacht in meiner
eigenen Badewanne ausstreckte und dabei hoffte, nur einen leichten Kater zu bekommen, fühlte ich mich großartig. Ich hatte einen Job, hatte einen potenziell tödlichen Niesanfall überlebt und besaß eine Badewanne. Kann ein Mensch sich mehr wünschen?
Am nächsten Tag, dem 15. April 1993, erschien ich morgens um halb neun im Urawa-Büro der Yomiuri Shimbun und setzte mich mit den anderen Neuankömmlingen in die Eingangshalle. Verglichen mit dem makellosen Büro in Chiba war dieses Büro, milde ausgedrückt, ein Rückschritt. Chappy holte tief Luft und sagte: »Das ist ein Rattenloch. Ich hatte mir etwas Besseres erhofft.« Frenchie meinte: »Es sieht auf jeden Fall nicht aus wie das typische Zeitungsbüro in der Firmenbroschüre.« »The Face« murmelte nur, er habe von noch schlimmeren Büros gehört.
Das Büro belegte den größten Teil des ersten Stocks eines Bürogebäudes in einer Wohngegend. Nur der Chef hatte sein eigenes Zimmer mit Tür, der Rest des Büros war offen, keine Kabinen, keine Privatsphäre. Der Empfangsbereich am Fenster war nicht besonders gemütlich. Drei Kunstledersofas standen um einen langen Tisch, der mit Zeitungen überladen war. Auch unter ihm stapelten sich Zeitschriften. Die Jalousien an den Fenstern waren mit einer Nikotinschicht bedeckt, die wie Fliegenleim alles einfing, von Staub bis zu Insekten.
Es gab zwei große Schreibtischgruppen. Die beiden Redakteure hatten den Tisch nahe der Mitte. Die älteren Reporter saßen an den drei Tischen im hinteren Teil des Raumes und genossen den Luxus eines Sofas an der Wand. Es gab auch eine Dunkelkammer und neben ihr einen Raum mit einer Tatamimatte, wo die Nachtschicht schlief. Dort gab es auch ein Bad mit Dusche und einen Schreibtisch mit Schubladen voller Pornos. Die Redakteure konnten da ihre Nickerchen machen, aber für die anderen Reporter war er tagsüber tabu. Die Schreibtische der vier Neuen standen mitten im Büro. Dort
waren wir am verwundbarsten.
Auf fast jedem Schreibtisch stand ein Tastentelefon, aber damals noch kein Computer. Es gab eine zentrale Datenstelle, wo Artikel eingetippt und zum Redigieren ans Hauptbüro geschickt wurden. Wir mussten unsere Artikel telefonisch an diese Stelle durchgeben, und Shimizu tippte sie dann noch einmal ab und formatierte sie. Das Ganze war ziemlich ineffizient.
Ono kreuzte gegen neun müde und schlecht gelaunt auf. An-scheinend hatte er in dem Anzug geschlafen, den er am Abend
zuvor getragen hatte. Er stellte sich vor den Empfangstisch und starrte uns an.
»Wer zum Teufel hat euch gesagt, dass ihr hier sitzen dürft?«, schrie er.
Wir standen sofort auf.
Doch dann lachte er, und wir durften uns wieder setzen. Dann überreichte uns Nakajima ein Exemplar des Handbuchs für Polizeireporter, Version 1.1 mit dem Titel Ein Tag im Leben eines Polizeireporters, einen Beeper, den wir an der Hüfte tragen sollten und der immer eingeschaltet sein musste, und einige Dokumente:
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