Tokio Vice
ist ein Jugendlicher. Deshalb keine Namen. Du kennst die Regeln.«
Er gab mir die Anschrift und riet mir, sofort hinzufahren. »Die Kollegen von der Mordkommission sind noch nicht da. Und wenn die dein langnasiges Gaijin -Gesicht dort sehen, sitzen wir beide in der Tinte.«
»Okay, ich hab’s kapiert.«
In Japan bekommt man den Schauplatz eines Verbrechens selten zu sehen. Da der Polizeifunk Anfang der Neunzigerjahre digitalisiert wurde, konnten wir Journalisten ihn nicht mehr abhören. Wenn man keinen Informanten in der Funkzentrale hatte, dauerte es aber meist mehrere Stunden, bis die Polizei die Presse über ein Verbrechen unterrichtete. Und wenn wir dann am Tatort eintrafen, hatte die Polizei das Gebiet bereits weitläufig mit dem üblichen gelben Band abgesperrt.
Ich weiß nicht, warum Takagi, dessen Stimme rau war wie Sandpapier, weil er von morgens bis abends Peace-Zigaretten rauchte, mich anrief. Vielleicht, weil ich so sympathisch war oder weil ich ihm Eintrittskarten für ein Baseballspiel der Yomiuri Giants besorgt hatte – wahrscheinlich eher deshalb.
Auf jeden Fall traf ich genau 15 Minuten nach unserem Telefonat am Schauplatz des Verbrechens ein. Es war ein typisches vierstöckiges, unscheinbares Gebäude mit Eigentumswohnungen. Auf den Balkonen hingen Kleider zum Trocknen. Takagi begrüßte mich flüchtig und führte mich in den dritten Stock. Wir gingen über den Flur, und er öffnete dann die entsprechende Wohnungstür.
Es roch irgendwie leicht salzig und nach etwas, das ich nur als Mischung aus Hotdogs und verbrannten Schokokeksen beschreiben kann. Im Wohnzimmer standen Kartons, als wäre jemand gerade am Ein- oder Ausziehen.
Takagi führte mich ins Schlafzimmer, das eindeutig das Zimmer eines Jugendlichen war. An den Wänden hingen Poster von japanischen Teenageridolen mit schlechten Zähnen. In einer Ecke waren Mangas gestapelt, und auf dem Fußboden befanden sich Fertignudelpackungen. Der Junge lag mit dem Gesicht zur Wand oben auf einem Etagenbett. Sein nackter Rücken war uns zugewandt.
Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber ich wollte den Jungen gerade an der Schulter berühren, als Takagi mich stoppte.
»Achtung, Jake-san. Fast hättest du dich auch umgebracht. Du kannst doch Japanisch lesen, also mach die Augen auf, du Idiot.«
Er legte einen Arm um meine Schulter und schob mich näher an den Jungen heran. Aus der Nähe sah ich auf dem Rücken des Toten ein Stück Papier, auf dem in kleiner Schrift stand: »Bitte nicht anfassen, Stromschlaggefahr.« Als ich mich über ihn beugte, sah ich Drähte, die auf seiner Brust und an seinen Brustwarzen klebten. Sie liefen die Wand entlang und endeten in einer Steckdose.
Ich war sprachlos. Takagi lachte. »Du musst vorsichtiger sein, Jake-san.«
»Was ist passiert?«
Takagi nahm ein Buch vom Schreibtisch neben dem Bett – Das Handbuch für den perfekten Selbstmord . »Er hat den Teil über den Tod durch Stromschlag gelesen und die Anweisungen genau befolgt. Hier, ich halte es, und du liest. Aber nicht anfassen.«
Dem Buch zufolge ist dieser Tod nahezu schmerzlos. Man spürt nur einen kurzen Schmerz, wenn der erste Schock einsetzt, dann hört man sofort zu atmen auf, das Herz steht still, und man ist innerhalb von Sekunden tot. Ein sauberer Tod. Der Körper wird kaum verletzt, sodass ein Begräbnis im offenen Sarg möglich ist. Der Autor wies darauf hin, dass sich nur sehr wenige Menschen auf diese Weise das Leben nehmen. Aber sie sei billig, schmerzlos und schnell und verdiene eine Neubewertung.
»Darüber solltest du schreiben«, meinte Takagi. »Wir werden den Selbstmord des Jungen nicht öffentlich bekannt machen, aber ich finde, man sollte etwas über dieses Buch schreiben. Eltern sollten davon wissen, damit sie, wenn sie es im Zimmer ihres Kindes entdecken, etwas unternehmen können. Es hilft ja nicht nur beim Selbstmord, es ermutigt geradezu dazu.«
»Warum hat er sich umgebracht?«
»Seine Familie ist eben erst von Osaka zugezogen. Vielleicht hat sich jemand über seinen Akzent lustig gemacht oder er wollte nicht umziehen. Wer weiß, er hat keinen Brief hinterlassen – nur die Warnung auf seinem Rücken.«
»Das ist erstaunlich überlegt.«
»Es ist eine verdammte Schande. Aber diese Warnung ist tatsächlich sehr überlegt – und höflich. Er hat sogar ›bitte‹ geschrieben. Und er hat kein Chaos angerichtet. Ich habe schon viele Selbstmörder im Teenageralter gesehen und manche denken überhaupt nicht an ihre
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