Tokio Vice
Razzia in einem Host-Club an diesem Abend. Zunächst verstand ich nicht.
»Sie meinen einen Hostessenclub?«
»Nein. Es ist die gleiche Art Club, aber mit Männern.«
»Also ein Schwulentreff?«
»Nein, in diese Clubs gehen Frauen, und Männer bedienen sie – so wie eine Hostess einen Mann bedienen würde. Sie wissen schon: Komplimente machen, einschenken, flirten, zum Reden und zum Geldausgeben bringen. Schauen Sie sich mal um. Was machen diese tuntigen Burschen in teuren Anzügen und mit langem rotem Haar Ihrer Meinung nach um drei Uhr morgens in Kabukicho?«
Ich hatte angenommen, dass sie auf der Jagd nach Mädchen waren, aber stattdessen brachten sie ihre Opfer in eine Bar, wo sie umsorgt wurden. Als leidenschaftlicher Beobachter gesellschaftlicher Phänomene wollte ich natürlich mehr darüber wissen.
Am Abend schnappte ich mir daher im Polizeidepartement Nojima, einen der höheren Beamten des Sittendezernats, und lud ihn zu einem Bier ein. Er war nicht schwer zu überreden. Aber als ich mitten in der ersten Runde die Razzia an diesem Abend ansprach, war er sauer, da er nicht wollte, dass die Sache vorzeitig bekannt wurde.
»Wir müssen noch zwei andere Lokale durchforsten. Wenn Sie mit dem Artikel einen Tag warten, gebe ich Ihnen einen Exklusivbericht.«
»Einverstanden«, sagte ich freundlich, »aber die Einzelheiten will ich jetzt haben.«
Er sträubte sich zwar noch ein bisschen, doch nach einer Weile rückte er mit den Informationen heraus.
Die Polizei von Shinjuku und das Jugendschutzdezernat in Tokio waren zu der Überzeugung gelangt, Host-Clubs seien ein Nährboden für Jugendkriminalität. Sie hatten schon in vier Clubs eine Razzia durchgeführt, weil sie keine Lizenz besaßen und Jugendlichen den Zutritt erlaubten.
»Früher waren Hostessen die einzigen Frauen, die solche Etablissements besuchten. Aber die Zeiten haben sich geändert. Und jetzt beobachten wir immer häufiger, dass College-Studentinnen, manchmal sogar Schulmädchen mit Geld, in diese Host-Clubs gehen. Ihnen gefällt die persönliche Zuwendung, und vielleicht sind sie in die Männer dort ein bisschen verliebt, obwohl die ihnen jeden Penny aus der Tasche ziehen. Die Mädchen machen dann sogar Schulden, und irgendwann schlägt der Inhaber der Bar ihnen vor, im Sexgewerbe zu arbeiten, um ihre Schulden abzuzahlen. Einige dieser Typen besitzen ja sowohl Host-Clubs als auch Sexclubs. Manche Mädchen begehen auch Ladendiebstähle, um die Rechnungen bezahlen zu können. Wir wissen, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt.«
Im Juli dieses Jahres hatte die Polizei von Shinjuku einen Anruf von den Eltern einer Schulabbrecherin bekommen. Ein Host-Club in Kabukicho hatte ihrer Tochter eine Rechnung über vier Millionen Yen (rund 38 000 Dollar) präsentiert. Natürlich waren die Eltern wütend.
Die Polizei überprüfte den Club und stellte fest, dass er nicht zugelassen war. Im August nahm sie daraufhin den jungen Besitzer fest, und als sie im September gründlicher nachforschte, stellte sie überrascht fest, dass es 71 solcher Host-Clubs gab. Drei Jahre zuvor waren es noch 20 gewesen. Warum diese starke Zunahme? Nojima meinte, dass die Mädchen eben immer öfter einfach Spaß haben wollten, und die Animateure in den Bars wollten Geld verdienen. Und die Frauen hätten dank der sexuellen Befreiung und ihrer finanziellen Unabhängigkeit keine Mühe, Zuneigung zu kaufen, so wie Männer es tun.
Es war seltsam, soziologische Theorien aus dem Munde eines Polizisten zu hören, andererseits war Nojima kein gewöhnlicher Polizist. Er hatte an der Sophia-Universität Psychologie studiert und war ein diplomierter Berater. Aber er legte Wert auf die finanziellen Motive: Ein guter Host-Club hatte einen Jahresumsatz von umgerechnet mehr als 300 000 Dollar. Nojima riet mir, einen Artikel über Host-Clubs zu schreiben, da die Leute wenig darüber wüssten. Er nannte drei Etablissements, und ich besuchte alle drei. Nach der anfänglichen Verwunderung, dass ein gaijin für die Yomiuri schrieb, waren die Besitzer bereit, mit mir zu reden. Einer lud mich sogar zu einer Nacht als Host ein. Natürlich nahm ich ihn gleich beim Wort.
Zuerst sprach ich mit meinem Redakteur über die Razzien. Er hatte davon noch nichts gehört. Kasama, eine der wenigen Frauen in der Redaktion für Landesnachrichten, half mir, den Artikel aufzusetzen, und überredete die Redaktion, ihn in der nationalen Ausgabe zu drucken.
Der Artikel erschien in der Morgenausgabe
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