Tokio Vice
der Yomiuri am 6. Oktober, kurz vor der offiziellen Bekanntgabe an diesem Nachmittag. Es war eine nette Schlagzeile.
Einige Abende später zog ich meine besten Sachen an, machte mich mit allem Drumherum sorgfältig zurecht, sodass ich nicht wie ein Englischlehrer oder noch schlimmer ein hungriger Zeitungsjournalist aussah, sondern wie ein Host.
Das »Ai« befand sich in einer der versteckten Gassen Kabukichos nicht weit vom Furinkaikan. Die Fassade war protzig: Neonlichter, beleuchtete Fotos von begehrenswerten Männern und ein goldenes Schild in Blattform mit dem Schriftzug »Ladies’ Club« über dem Eingang. Zwei muskulöse Männer, die Bronzestatuen glichen, bewachten die Eingangstür, auf der das rote Schriftzeichen für ai (»Liebe«) stand. Es war eine Kombination aus teurem Art déco und Esslokalkitsch aus den Fünfzigerjahren.
Nachdem man die Treppe hinabgestiegen war, gelangte man in den Club, der von Kristalllüstern beleuchtet wurde, aber eher dunkel gehalten war. Überall standen runde Plüschsofas. Das Ganze wirkte märchenhaft, weil die Lichter von Bronzestatuen, silbernen Spiegeln und glänzendem Dekor reflektiert werden.
Als ich um sechs Uhr meinen Dienst antrat, unglaublich früh für einen Host-Club, wartete Takeski Aida schon auf mich. Der Eigentümer und Direktor einer Kette von »Ai«-Clubs hatte kurze Locken, einen dünnen Schurrbart und trug eine Sonnenbrille, einen teuren Anzug, der dezent schimmerte, und eine gemusterte Seidenkrawatte, die so eng geknotet war, dass man fürchten musste, sein rundes Babygesicht werde unzureichend mit Sauerstoff versorgt. Mit seinen 59 Jahren strahlte er unbestreitbar einen schwer zu definierenden Charme aus. Er verstand es sehr geschickt, Menschen das Gefühl von Wohlbehagen zu vermitteln.
Aida wurde in der Präfektur Niigata als sechster von neun Brüdern geboren. Als er 20 war, zog er in die Großstadt und begann für eine Bettenfirma zu arbeiten, wo er zu den besten Verkäufern gehörte. Dann gründete er eine Firma, die pleite ging, und eröffnete anschließend ein Perückengeschäft. So lernte er es, Geschäfte mit Frauen zu machen.
Danach fand er eine Stelle in einem Host-Club. Ein Jahr später warb ihn ein anderer Club ab, und nach ein paar weiteren Jahren stellte ihn der größte Host-Club der Stadt ein. Offenbar hatte Aida Talent. Er gründete schließlich das »Ai«, das sich bald zum Vorbild aller Host-Clubs entwickelte. In den folgenden Jahren schuf Aida ein kleines Imperium aus Host-Clubs, Kneipen und Bars. Das »Ai« gehörte so sehr zu Kabukicho, dass es sogar in das Programm von Busrundfahrten für Landfrauen im mittleren Alter aufgenommen wurde. Zu der Zeit, als Aida mich für eine Nacht anheuerte, arbeiteten etwa
300 Männer in fünf Clubs für ihn. Außerdem hatte er ein Buch über die Leitung eines Betriebes geschrieben (und seine Frau hatte ein Buch über die Freuden und Gefahren einer Ehe mit einem professionellen Animateur veröffentlicht).
Aida war gerne bereit, mit mir über sein Geschäft zu sprechen.
»Früher waren Host-Clubs Lokale, in denen Frauen mit attraktiven jungen Männern tanzen konnten. Heute kommen viele Frauen hierher, weil sie einsam sind. Sie lernen nirgends einen netten Kerl kennen, aber sie wünschen sich jemanden, der mit ihnen redet und ihnen zuhört. Sie brauchen eine Schulter zum Ausweinen, jemanden, der mit ihnen fühlt. Die menschliche Note eben. Manche fragen sogar um Rat, wie sie mit ihren ungeschickten Freunden umgehen sollen. Andere wollen nur tanzen. Frauen mögen Animateure, die sie zum Lachen bringen, witzige Bemerkungen machen oder über die neuesten Fernsehshows reden können. Die beliebtesten Animateure sind nicht unbedingt die attraktivsten. Ein guter Animateur ist ein guter Zuhörer, Unterhalter und Berater, und er weiß, wann er einer Dame einen Drink einschenken muss.«
Ja, in diesen Clubs schenkten die Männer den Frauen ein. Und das war ungewöhnlich. In Japan wird erwartet, dass untergeordnete oder jüngere Leute ihren Vorgesetzten oder den Älteren einschenken. Eine unausgesprochene Regel lautet: Wenn Frauen anwesend sind, bedienen sie die Männer. Darum ist es für eine Japanerin natürlich ungewohnt und aufregend, von Männern bedient zu werden.
»Aber ein guter Animateur muss auch wissen, wie viel Geld eine Kundin ausgeben kann. Man darf Kundinnen nicht in den Ruin treiben oder in finanzielle Schwierigkeiten bringen. Das würde nur eine Menge Ärger verursachen – für alle. Die
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