Tokio Vice
eine spirituelle Ausbildung machte. Lucie bat darin darum, dass die Polizei und ihre Familie nicht mehr nach ihr suchten. Die Polizei hielt den Brief allerdings für einen dummen Scherz oder für den Versuch des Entführers, die Ermittler auf eine falsche Spur zu lenken. Einer der Beamten, sein Spitzname war Googly (Froschauge), den ich aus dem vierten Distrikt kannte, zeigte mir den Brief und fragte nach meiner Meinung.
Ich sah sofort, dass der Brief von einem Japaner geschrieben worden sein musste und nicht von einem Muttersprachler. Der falsche Gebrauch von a und the sowie der eher steife Stil und die Neigung zu doppelten Verneinungen bewiesen eindeutig, dass der Verfasser Japaner war. Da ich Japaner im Englischen unterrichtet hatte, kannte ich die Eigenarten des japanischen Englischs genau. Das alles erklärte ich Googly, und er schien mir zu glauben.
Am nächsten Tag richtete Tim Blackman eine Hotline ein, um Informationen über Lucie zu sammeln.
Die erste Augustwoche kam und ging. Lucie war mit einem 90-Tage-Visum nach Japan gekommen. Wenn sie noch in Japan war, galt sie jetzt als illegale Ausländerin.
Nun reiste Tim Blackman nach Japan, was einen riesigen Medienrummel zur Folge hatte. Auf einer Pressekonferenz in der britischen Botschaft setzte er eine Belohnung von 1,5 Millionen Yen (etwa 15 000 Dollar) für Hinweise aus, die zur Rettung oder Entdeckung von Lucie führten. In der Zwischenzeit deckte die Polizei die wahre Identität des mysteriösen Akira Takagi auf. Aber wo Lucie sich aufhielt, wusste sie immer noch nicht.
Am 1. September war Lucies Geburtstag, es war ihr 22.
Auch ich hatte noch nicht viel Konkretes über Lucie erfahren. Das Einzige, was vielversprechend klang, waren Informationen über einen Mann namens Yuji. Er hatte langes, grau gesprenkeltes Haar und war ein häufiger Gast in den Clubs von Roppongi, Akasaka und Ginza, die ausländische Hostessen anboten. Er war immer gut gekleidet, gab in jedem Club, den er besuchte, eine Menge Geld aus und bevorzugte Blondinen. Aber niemand hatte Yuji seit Ende Juni gesehen, niemand hatte seine Visitenkarte und niemand hatte ein Foto von ihm.
Um Informationen über Lucie zu sammeln, musste ich mich ins Nachtleben von Roppongi stürzen und durfte mich nicht als Reporter zu erkennen geben. Da viele Ausländer dort illegal arbeiteten, trauten sie weder Polizisten noch Journalisten. Also musste ich mir eine falsche Identität überlegen.
Ich konnte schwerlich so tun, als sei ich ein superlässiger, cooler Gaijin- Bursche/DJ/Englischlehrer, der in Roppongi nach Beute suchte. Denn dafür war ich nicht der Typ. Bestenfalls konnte ich hoffen, als gut bezahlter, etwas schmieriger ausländischer Geschäftsmann durchzugehen. Da es von dieser Sorte viele gab, war es nicht besonders schwierig, sie zu imitieren. Ich besorgte mir also einen besseren Anzug, nahm meine Krawatte ab und plauderte mit den Mädchen in den Bars, ohne zu viele Fragen zu stellen.
Ich legte mir einen falschen Namen zu und wählte als Beruf Versicherungssachverständiger. Zudem ließ ich mir falsche Visitenkarten drucken, kaufte ein zweites Handy und verbrachte jedes Wochenende mit dem Abschaum von Roppongi, um jemanden zu finden, der Lucie oder den Kunden kannte, der mit ihr ans Meer gefahren sein könnte.
Die Informationen über Yuji gab ich weiter an meinen Chef und Googly. Dann überlegte ich, ob ich Pablo meinen Informanten nennen sollte, entschied mich aber dagegen. Denn die Namen von Informanten muss man einfach für sich behalten.
Ich besaß noch eine andere nützliche Information: Yuji besuchte regelmäßig ein Lokal namens »Club Codex«. Also beschloss ich, diesen unter die Lupe zu nehmen. Der Geschäftsführer war ein Japaner namens Slick.
Kaum hatte ich den »Club Codex« betreten, da spürte ich schon, dass dort irgendetwas anders war. Auf den ersten Blick schien es ein typischer Hostessenclub zu sein mit gedämpftem Licht, künstlichen Topfpflanzen, Samtsofas und Tischen sowie Kristallkaraffen mit Whiskey und Wasser. Aber die Gäste kamen mir etwas schmuddeliger vor als die meisten anderen, und die osteuropäischen Frauen schienen sich dort nicht wohlzufühlen. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, und sie schienen ängstlich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, was sich im Club abspielte. Erst später sollte ich es erfahren. Als ich beiläufig den Namen »Yuji« erwähnte, wurde ich sofort aufgefordert, das Haus zu verlassen. Das war für mich eine Bestätigung
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