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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jake Adelstein
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nannte, behauptete, dass Lucie sich einer Sekte in der Präfektur Chiba angeschlossen habe. »Sie kann jetzt nicht nach Hause kommen, aber machen Sie sich keine Sorgen um sie.«
    Natürlich machte sich Louise große Sorgen, daher ging sie zur britischen Botschaft und bat dort um Rat. Dann erstattete sie bei der Polizei von Azabu eine Vermisstenanzeige. Zunächst wollte die Polizei den Fall zwar nicht bearbeiten, aber da die Botschaft unterrichtet war, konnte man das Verschwinden und den rätselhaften Anruf unmöglich ignorieren. Wäre dieser Anruf nicht gewesen, hätte es vielleicht nie richtige Ermittlungen gegeben. Am Neunten beschloss das Dezernat für Mord, Raub und andere Gewaltkriminalität, den Fall zu übernehmen. Von da an lag er nicht mehr in den Händen der lokalen Polizei, sondern war ein Problem des Hauptquartiers.
    Etwa um diese Zeit rief mich ein älterer Polizeireporter an. Nishijima, auch Pablo genannt, bat mich um Hilfe bei dieser Story, die noch gar keine echte Story war, denn die Tokioter Polizei hatte noch keine offizielle Stellungnahme abgegeben und die Yomiuri begann gerade erst mit den Nachforschungen. Es war noch sehr wenig über Lucies Verschwinden bekannt. Pablo ermahnte mich, vorläufig noch Stillschweigen zu bewahren.
    Ich mochte Pablo sehr. Er war ein guter Reporter und obendrein ein Gentleman. Yamamoto und Pablo waren beide der Tokioter Polizei zugeordnet und schrieben über Gewaltverbrechen und internationale Kriminalität. Pablo war Yamamotos rechte Hand. Er sah nicht aus wie ein Japaner. Denn irgendwo in seinem Stammbaum gab es einen amerikanischen Ahnen, dem er ein beinahe lateinamerikanisches Aussehen verdankte. Einer unserer Kollegen meinte oft scherzhaft, es gebe sogar drei Ausländer in der Abteilung für Inlandsnachrichten: einen Mongolen (Yamamoto), einen Juden (mich) und einen Mexikaner (Pablo).
    Am Telefon war Pablo erfrischend ehrlich: »Also, Jake, es sieht so aus, als wärst du reif für einen Wechsel. Das Opfer ist Ausländerin, ebenso alle ihre Freundinnen. Wir brauchen jemanden, der zu ihnen passt und mit Leuten reden kann, die Lucie und ihre Familie kennen. Dieser Mann bist du. Hast du Interesse?«
    Selbstverständlich hatte ich Interesse.
    Ehrlich gesagt hielt ich den ganzen Rummel damals zunächst für übertrieben. Ich vermutete, dass Lucie eine von den vielen Gaijin- Hostessen war, die mit ihrem Freund oder mit einem reichen alten Knacker nach Thailand oder Bali gereist waren, und nur vergessen hatte, jemandem Bescheid zu sagen.
    Trotzdem bat ich um Erlaubnis, meine normalen Pflichten etwas zu vernachlässigen und ein paar Wochen lang der Tokioter Polizei zu helfen. Am 9. Juli, als die Ermittlungen offiziell aufgenommen wurden, ging ich in die Polizeizentrale, wurde hereingewinkt und stieg hinauf in den achten Stock. Pablo und Yamamoto warteten schon auf mich. Misawa, der Vorsitzende des Presseclubs, schlief auf dem Sofa.
    Yamamoto war guter Laune und begrüßte mich herzlich. »Jake, lange nicht mehr gesehen. Na, nimmst du noch Heroin?«
    »Nein, Yamamoto. Ich verkaufe es nur noch an Schulkinder.«
    »Wirklich? Kein Wunder, dass du so dick geworden bist.«
    Das stimmte. Nein, natürlich hatte ich weder aufgehört, Heroin zu konsumieren, noch hatte ich es je konsumiert. Aber ich hatte ziemlich zugenommen.
    Yamamoto hingegen hatte eine Menge Gewicht verloren. Reporter, die über Mord und Gewaltverbrechen berichten, haben einen sehr anstrengenden Job, und das war wohl die Folge des Stresses. Die Sitte ist auch nicht einfach, aber man wird nur selten mitten in der Nacht wegen einer Festnahme aus dem Bett geklingelt. Sittlichkeitsverbrechen ereignen sich nicht spontan. Das lernte ich im vierten Distrikt. Eine Polizeirazzia in einem Sexclub oder die Beschlagnahme pornografischer DVDs hatten bestenfalls symbolische Folgen für die Gesellschaft, und es handelte sich dabei nicht um Nachrichten, über die man sofort und eingehend berichten musste. Die meisten Aktionen des Sittendezernats schafften es nicht in die Zeitungen, wenn sie überhaupt öffentlich bekannt gegeben wurden. Artikel musste ich zwar trotzdem schreiben, aber mir war bewusst, dass die Arbeit wahrscheinlich umsonst war. Bei Mord und Gewalt ist das anders. In einem Land, in dem es wenig Morde gibt, sind sie fast immer wichtige Nachrichten. Und sie geschehen zu ungewöhnlichen, oft unangenehmen Tageszeiten, man muss sich auch sofort damit befassen. Man sucht unverzüglich den Tatort auf und lässt sich

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