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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Blechdach höher als zwei Häuser war. Ich hatte wohl hundertmal dieses Gebäude passiert, mich jedoch nie gefragt, was hier hergestellt wurde.
    Wir drängten uns dicht zusammen, stampften mit den Füßen und klatschten in die Hände, um unseren Kreislauf wieder in Gang zu bringen, während wir uns ängstlich auf der Straße umschauten.
    Der Junge hielt abermals warnend einen Finger an seine Lippen. »Hier wohnt er«, flüsterte er. »Das hier ist sein Zuhause.« Er stieß das Tor einen Spalt weit auf. In dem Gebäude dahinter konnte ich ein paar schemenhafte Dinge ausmachen: die Kante einer Maschine, feuchte Betonwände, ein Fließband, An der gegenüberliegenden Wand stapelte sich ein Berg altmodischer Reetkörbe.
    »Was ist das hier?«, flüsterte Liu, und seine Stimme verriet, dass er, ebenso wie ich, nicht durch das Tor treten wollte. Die Luft, die aus der Spinnerei drang, erinnerte mich an die Schlachthäuser am Stadtrand. »Warum hast du uns hierher gebracht?«
    »Ihr wolltet wissen, warum die Frau geschrien hat.«
    Wir zögerten, den Blick starr auf das Tor gerichtet.
    »Keine Angst.« Der Junge bemerkte unseren Gesichtsausdruck und meinte: »Er ist jetzt nicht hier.«
    Dann stieß er das Tor ein Stück weiter auf. Ein furchtbares Kreischen schallte durch das hallengleiche Gebäude, dann schlüpfte der Junge hinein und war verschwunden. Liu und ich sahen einander an. Es gibt keinen Teufel, rief ich mich zur Ordnung, trotzdem dauerte es eine Weile, bis ich genügend Mut aufbrachte, um das Tor aufzustoßen und hindurchzutreten. Liu folgte mir, und wir standen einen Moment lang schweigend da, während sich unsere Augen an das trübe Licht gewöhnten. Das Gebäude musste einmal eine Seidenspinnerei gewesen
    sein. Ich erkannte einen Bottich zum Auskochen der Kokons, vier oder fünf riesige Webstühle und Dutzende von sechseckigen Seidenspulen. Der Junge stand in der Ecke neben einer kleinen Tür und winkte uns heran. Als wir bei ihm waren, drückte er die Tür auf, doch er rührte sich nicht von der Stelle, ließ seine Hand auf dem Tür
    griff ruhen, während er uns einen Raum zeigte, der allem Anschein nach das ehemalige Büro des Spinnereidirektors war. Als ich sah, was sich dort befand, schlug ich die Hand vor den Mund und tastete Halt suchend nach der Wand, damit mir nicht die Beine wegknickten.
    »Ehrwürdiger Vater im Himmel«, hauchte Liu, »was geschieht hier drinnen? Was geschieht hier drinnen?«
    41
    Manche Dinge sind schrecklicher, furchtbarer, als man es sich vorstellen kann. Es war im Wagen, auf der Fahrt zu Fuyukis Party, als mir wieder einfiel, was Oshaka bedeutete. Wo ich es gelesen hatte. Ich atmete tief durch, um mein Zittern zu unterdrücken. Ich hätte den Chauffeur bitten sollen anzuhalten. Ich hätte die Tür öffnen und einfach aus dem fahrenden Wagen springen sollen, doch ich war wie gelähmt, während der grausige Gedanke langsam von mir Besitz ergriff. Schweiß lief mir über den Rücken, als wir das Apartmentgebäude erreichten.
    Mein Auto war das letzte im Konvoi gewesen, und als ich
    schließlich nach oben kam, hatten die Leute bereits zum Abendessen Platz genommen. Da es draußen kühl war, fand es in einem Esszimmer mit niedriger Decke statt, das Ausblick auf den Pool bot. Tokyo Tower, auf der gegenüberliegenden Seite, war so nah, dass sein rot-weißes Zuckerstangenlicht auf die großen runden Tische fiel.
    Ich betrachtete die Szenerie, die so harmlos wirkte. Fuyuki, winzig und skelettgleich, in eine rote Rennfahrerjacke gekleidet, auf der das Wort »Bud« prangte, saß in seinem Rollstuhl am Kopf des Haupttisches, rauchte eine Zigarre und nickte seinen Gästen freundlich zu. Es waren nur noch ein paar Plätze an dem Tisch neben dem Fenster frei. Ich setzte mich eilig hin, nickte meinen Tischnachbarn, zwei alten Männern, zu, nahm eine Serviette und tat so, als gäbe es nichts Wichtigeres, als sie zu entfalten.
    In der Ecke, hinter der Vitrine, befand sich eine kleine Küche, in der die Kellner geschäftig mit Tabletts und Gläsern hantierten. An der Arbeitsfläche stand, ungerührt von dem hektischen Treiben, die Krankenschwester. Sie trug wie üblich einen schwarzen Rock und stand etwas seitlich abgewandt zum Esszimmer, so dass ihre glänzende Perücke einen Teil ihres Gesichts verdeckte, während sie mit flinken Bewegungen ihrer weiß gepuderten Hände auf einem großen Holzbrett Fleisch hackte. Jason beobachtete sie von der Tür aus, eine Hand lässig an den Rahmen gestützt.

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