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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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tun gehabt. Ich sollte ihm folgen. Ich sollte fünf Minuten warten und dann nachkommen und ihn und die Krankenschwester dabei überraschen, wie sie einander die Kleider vom Leib rissen. Ich sollte wahrscheinlich zuschauen - eine unbeschreibliche Szene, die er sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte: die Entstellte und der Liebhaber. Und dann sollte ich mich dazu gesellen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ganz unvermittelt das makabre Bild eines japanischen Tanzes, von dem ich einmal gehört hatte und der von den Prostituierten in einer heißen Quelle dargeboten wurde. »Der Tanz im Bach«, nannte man
    ihn. Mit jedem Schritt, mit dem sich die Tänzerin in den Fluss vorwagt, muss sie ihren Kimono ein Stück weiter anheben, damit er nicht nass wird. Ihr Körper wird Zentimeter um Zentimeter enthüllt. Eine weiße Wade. Blasse Haut. Alle halten den Atem an und warten gebannt auf das, was noch kommen
    wird. Der Saum hebt sich ein wenig höher - und noch ein wenig höher. Wie würde die Krankenschwester nackt aussehen? Was würde er denken, wenn er sie berührte? Und was würde sie denken, wenn sie ihn berührte? Wenn sie lebendes Menschenfleisch berührte, wie unterschied sie es von dem toten, das sie für Fuyuki zermahlte? Würde er ihr zuflüstern, was er mir zugeflüstert hatte: Ich ficke für mein Leben gern Freaks ...
    Ich zündete mir eine Zigarette an, schob meinen Stuhl zurück und ging zu der Glastür, die zum Swimmingpool führte. Sie stand einen Spalt weit offen, und um das Becken herum war alles gespenstisch still - abgesehen von dem Geräusch der Filteranlage und dem gedämpften Verkehrslärm, der vom Number-One-Expressway herüberdrang. Meine Pupillen zogen sich zusammen, doch der Rest von mir blieb völlig reglos. Lautlos. Ganz gemächlich, wie eine Schlange, streckten sich meine Gedanken in die Korridore um mich herum aus, schlängelten sich langsam über den Innenhof. In regelmäßigen Abständen waren kleine Lampen um den Pool platziert. Ich legte meine Finger an die Glasscheibe. Die Lampen erinnerten mich an die kleinen buddhistischen Laternen, die neben einer Leiche brannten.
    Wohin waren Jason und die Krankenschwester verschwunden? Wo immer sie waren, sie hatten den Rest des Apartments leer, unbewacht zurückgelassen. Das Ironische dabei war, dass Jason gar nicht ahnte, wie sehr er mir geholfen hatte. Ich stellte mir die Zimmer unter mir vor, sah mich die eleganten Korridore entlanggehen und den Raum unter dem Swimmingpool betreten. Ich sah, wie ich mich über einen Glaskasten beugte und mit beiden Händen etwas heraushob ... Ich warf einen Blick über die Schulter. Fuyuki und der Chimpira aßen Shabu shabu, Bison war aufgestanden und beugte sich über einen Stuhl, während er sich mit einer Hostess in einem schulterfreien Abendkleid unterhielt. Niemand beachtete mich. Ich schob die Glastür ein Stück weiter auf und tat einen Schritt in die Nacht hinaus. Der Raum unter dem Swimmingpool, in dem ich den Glaskasten entdeckt hatte, lag im Dunkeln. Ich holte tief Luft und machte einen Schritt vorwärts. Meine Absätze klackten auf dem kalten Marmor. Ich wollte gerade die Tür weit hinter mir lassen, als im Esszimmer jemand laut zu husten anfing.
    Ich drehte mich um. Der Chimpira klopfte Fuyuki auf den Rücken, beugte sich besorgt über ihn und redete leise auf ihn ein. Der Rollstuhl war vom Tisch zurückgeschoben worden, und Fuyuki saß vornübergebeugt da, die Füße in den teuren Designerschuhen steif vor sich ausgestreckt, sein Körper gebogen wie eine Haarnadel. Jegliche Unterhaltung im Raum verstummte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während er sich verzweifelt an die Kehle fasste. Der Chimpira stand auf, fuchtelte hilflos mit den Händen herum, während sein Blick von einer Tür zur anderen huschte, so als würde er Hilfe erwarten. Fuyuki öffnete fast wie in Zeitlupe den Mund und legte den Kopf in den Nacken. Dann schoss plötzlich sein Arm nach vorn, und sein Oberkörper schnellte wie ein Bogen nach hinten.
    Alle sprangen wie auf Kommando von ihren Stühlen auf und stürzten zu ihm. Jemand brüllte Anweisungen, jemand anders stieß eine Blumenvase um, Gläser zerbrachen klirrend auf dem Boden. Der Kellner schlug mit der flachen Hand auf einen Alarmknopf. Das rote Lämpchen über mir blinkte lautlos. Fuyuki versuchte aufzustehen, warf sich wie von einem Krampf geschüttelt in seinem Rollstuhl hin und her, wedelte panisch mit den Händen. Neben ihm stand eine Hostess und gab entsetzte Laute

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