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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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    Strawberry setzte gerade zum Sprechen an, als der Aufzug klingelnd seine Ankunft verkündete. Erschrocken drehten wir uns um, ganz so, als hätten wir einen Dämon heraufbeschworen. Wir erkannten, dass einer der Aluminiumtürflügel offen stand und dahinter im Foyer die unverkennbare Gestalt der Krankenschwester sichtbar wurde. Sie trug einen hellbraunen Regenmantel mit dazu passenden Lederhandschuhen, und wartete auf jemanden. Angetrieben wie eine Rakete schoss Strawberry hoch, kreidebleich unter ihrem grellen Make-up. »Dame!«, zischte sie. »Wusstest du, dass sie kommt?«
    »Nein.« Ich ließ die Krankenschwester nicht aus den Augen, während ich mich über den Schreibtisch zu Strawberry beugte und eindringlich flüsterte: »Was meinen Sie mit Oshaka? Was ist Oshaka?«
    »Ssch.« Sie schauderte, als hätte man ihr Eis über den Rücken gekippt. »Sprich nicht so laut. Halt jetzt den Mund. Es ist nicht sicher.«
    Fuyuki hatte die Krankenschwester geschickt, um wieder Hostessen für eine Party in seiner Wohnung zu besorgen. Die Neuigkeit breitete sich in Windeseile im Klub aus. Ich saß mit klopfendem Herzen am Schreibtisch und beobachtete, wie die Krankenschwester leise mit Mama Strawberry sprach, die mit gesenktem Kopf und grimmiger Miene Namen notierte. Schließlich deutete die Krankenschwester in den Klub und murmelte etwas. Strawberrys kleiner goldener Kugelschreiber erstarrte auf halbem Weg zum Notizblock. Ihr Blick wanderte zu mir, und einen Moment lang schien es so, als wollte sie etwas sagen. Dann musste sie es sich anders überlegt haben, denn sie biss sich auf die Lippe und schrieb einen weiteren Namen auf die Liste.
    »Du bist auserwählt«, sagte Jason, der lautlos neben dem Schreibtisch aufgetaucht war. Die Arbeitszeit war noch
    nicht zu Ende, doch er hatte bereits seine Fliege aufgebunden und rauchte eine Zigarette. Er sah nachdenklich zur Krankenschwester. »Wieder eine Party. Und es könnte gar nicht besser für uns laufen.« Als ich nicht antwortete, murmelte er: »Schau dir nur mal ihre Absätze an. Verstehst du, was ich meine?« Seine Augen waren auf ihre Füße und Beine, auf ihren engen Rock gerichtet. »Sie bringt mich echt auf Ideen, Spacko. Wart's nur ab, es wird dir gefallen.«
    Er ging ins Foyer und fing die Krankenschwester am Lift ab. Dann stellte er sich neben sie, sein Gesicht ganz nah an dem ihren. Sie hörte ihm reglos zu. Ich starrte auf ihre langen, behandschuhten Hände.
    »Denkst du, dass er seine Hand unter Ogawas Rock steckt?«, bemerkte Mama Strawberry, die unvermittelt neben mir aufgetaucht war. Sie hatte ihren Blick auf Jason gerichtet, während sie sich dicht an mein Ohr beugte. Ich konnte den Tequila in ihrem Atem riechen. »Du machst Wette mit mir, Grey. Du wettest, wenn er steckt Hand unter Miss Ogawas Rock, was er dann finden. Ja?« Sie klammerte sich betrunken an meinen Arm, um nicht umzufallen. »Ja? Du fragst Strawberry, Jason wird Chin chin in ihrem Höschen finden. Du fragst Strawberry
    - Ogawa sieht wie Mann aus.«
    »Strawberry. Was war das für Fleisch in dem Zanpan?«
    Ihre Finger schlössen sich fester um meinen Arm. »Nicht vergessen«, zischte sie, »alles nur Gerüchte. Du nicht weitersagen.«

    40
    Nanking, 20. Dezember 1937
    Zuerst brachten wir Shujin die Klöße, dann verließen wir drei die Gasse. Wir gingen durch die frühmorgendlichen Straßen, hielten dabei ein wachsames Auge auf all die verbarrikadierten Türen. Nanking, dachte ich, du bist eine Geisterstadt. Wo sind deine Bürger? Verbergen sie sich mucksmäuschenstill in ihren Häusern? Verstecken sie sich in Tierpferchen und unter Fußböden? Der Schnee fiel lautlos herab, blieb auf unseren Mützen und Jacken liegen und bildete eine gelbe Schicht auf dem alten Ziegenmist im Rinnstein. Wir begegneten keiner Menschenseele.
    »Seht!« Binnen zehn Minuten hatten wir eine Seitenstraße erreicht, die zur Zhongyang-Straße führte. Der Junge zeigte auf eine Zeile von rußschwarzen Häusern. Sie muss-ten vor kurzem ausgebrannt sein, denn es stieg noch immer Rauch auf.
    »Das ist er. Der Yanwangye. Das ist es, was er tut, wenn er sucht.«
    Liu und ich sahen einander an. »Sucht?«
    »Nach Frauen. Das macht er immer.«
    Wir wollten etwas sagen, doch er hielt sich einen Finger an die Lippen und brachte uns damit zum Schweigen. »Nicht jetzt.«
    Er ging voran, führte uns weiter die Straße entlang, bis er schließlich vor dem doppelflügeligen Tor einer Fabrik stehen blieb, deren galvanisiertes

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