Tokio
Eine Zigarette brannte zwischen seinen Fingern, und er bewegte sich nur, um einen Kellner mit einer Servierplatte oder einer Flasche durchzulassen. Ich breitete mechanisch die Serviette auf meinem Schoß aus, außer Stande, meinen Blick von den Händen der Krankenschwester zu lösen. Welches merkwürdige Fleisch bereitete sie sonst zu?, ging es mir durch den Kopf. Und wie hatte sie die Eingeweide eines Mannes entfernt, ohne dabei auch nur seine Armbanduhr verrutschen zu lassen? Die Hostessen, die in der Nähe der Küche saßen, warfen ihr immer wieder nervöse Blicke zu. Solange sie ein Messer in der Hand hielt und es so gekonnt handhabte, konnte man nicht erwarten, dass die Leute sich ungezwungen verhielten.
Ein Kellner griff in eine runde Vertiefung in der Mitte des Tisches, an dem ich saß. Er bewegte seine Finger, so als würde er an etwas drehen, und plötzlich schoss eine blaue Flamme hoch. Einige Hostessen fuhren erschrocken zusammen und kicherten. Ich beobachtete den Kellner, während er die Flamme einstellte und dann einen großen Edelstahltopf mit Wasser darauf stellte. Dunkle, fasrige Stränge von Seetang bewegten sich am Topfboden. Als sich die ersten Blasen bildeten und an die Oberfläche stiegen, kippte er von einer silbernen Servierplatte einen Berg gewürfelter Karotten, Pilze und Kohl samt einer Hand voll Tofuwürfel ins Wasser. Dann rührte er das Ganze einmal um, deckte es mit einem Deckel zu und ging zum nächsten Tisch.
Ich starrte auf mein Gedeck. Vor mir lag ein großes, zusammengefaltetes Leinenlätzchen neben einer Miniatur-bambuszange und einer kleinen Schüssel mit Soße, auf der Fettaugen glänzten.
»Was ist das? Was gibt es zu essen?«, fragte ich den Mann zu meiner Rechten.
Er grinste und band sich das Lätzchen um. »Das ist Shabu shabu. Kennst du Shabu shabu?«
»Shabu shabu?« Die Haut um meinen Mund begann zu kribbeln. »Ja. Selbstverständlich kenne ich Shabu shabu.«
Rindfleischscheiben. Ungewürztes Fleisch, das roh an den Tisch gebracht wurde. Mama Strawberry würde hier kein Shabu shabu essen. Sie würde überhaupt nichts in dieser Wohnung essen, wegen der Geschichten - der Geschichten über merkwürdiges Fleisch, feilgeboten neben den Ständen, die Oshaka verkauften. Oshaka. Es war ein sonderbares Wort, das so etwas Ähnliches wie »aus zweiter Hand« oder »ausrangierte Habseligkeiten« bedeutete. Doch im Wagen war mir eingefallen, dass das Wort noch eine andere, unheilvollere Bedeutung besaß: Die Yakuza hatte ein Wortspiel aus Osaka und Shaka, einem Verweis auf Buddha, benutzt, um ganz spezielle »ausrangierte« Habseligkeiten zu beschreiben. Wenn Strawberry Oshaka sagte, meinte sie das Hab und Gut der Toten.
Der Kellner nahm den Deckel vom Topf auf dem Tisch, so
dass der süßlich riechende Dampf in einer Säule aufstieg. Die Tufowürfel im Wasser hüpften und tanzten und schlugen Purzelbäume.
Das Rindfleisch wurde aufgetragen, die Scheiben so hauchdünn wie Carpaccio. Ich erlaubte dem Kellner, den Teller zu meiner Linken abzustellen, doch ich begann nicht sofort, das Fleisch mit der Zange aufzurollen, wie meine Nachbarn es taten. Ich saß da und starrte es an. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Alle aßen, hoben die rohen Fleischscheiben hoch, hielten sie gegen das Licht, so dass es durch die rot-weiße Marmorierung des Fleisches schien, tauchten sie dann in die siedende Brühe und schwenkten sie hin und
her - Zisch zisch, Shabu shabu. Anschließend stippten sie es in die Soße, legten den Kopf in den Nacken und stopften es sich in den Mund. Fett lief ihnen übers Kinn.
Die Leute würden schon bald bemerken, dass ich nicht aß, weshalb ich mit der Zange eine Fleischscheibe nahm, sie in die brodelnde Brühe tunkte und dann an den Mund führte. Ich knabberte einen winzigen Bissen vom Rand ab und schluckte ihn, ohne das Fleisch zu kosten, hinunter. Dabei musste ich an Shi Chongming denken und daran, wie schwer ihm das Essen fiel. Ich legte den Rest des Fleisches in der Soßenschüssel ab und trank eilig einen Schluck Rotwein. Bison, der an Fuyukis Tisch saß, aß auch nicht. Seine Miene wirkte beklommen, während er die Russinnen beobachtete, die rechts und links neben ihm saßen und mit großem Appetit das Rindfleisch verschlangen. Du isst nicht, weil du Bescheid weißt, Bison, dachte ich. Du weißt über Oshaka und Zanpan-Eintopf Bescheid und darüber, was Fuyuki seiner Überzeugung nach unsterblich macht. Stimmt's? Du kennst die Wahrheit. Die Kellner hatten
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