Tokio
Alles.«
»Ich kann es nicht vergessen. Warum haben Sie mir gesagt, ich soll nichts essen?«
Sie schüttete mehr Tequila in sich hinein und stopfte ungelenk eine Zigarette in die Zigarettenspitze, benötigte drei oder vier Anläufe, bevor es glückte. »Hör zu«, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt sanfter, »ich werde dir was erzählen. Ich werde dir von Strawberry Mutter erzählen.«
»Ihre Mutter ist mir egal ...«
»Strawberry Mutter«, sagte sie mit fester Stimme, »sehr interessante Frau. Als sie klein, kleines Mädchen so groß, alle in Tokio hatten kein Essen.« Ich machte den Versuch, sie,zu unterbrechen, doch Mama Strawberry hob die Hand und stoppte mich. Ihre Stimme klang eindringlich und
klar, und ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Weißt du das, Grey? Alle hungrig.« »Ich weiß das. Sie hungerten.«
»Ja. Ja. Hungerten. Schrecklich. Aber dann passiert etwas. Etwas Erstaunliches für meine Mutter. Plötzlich kommen die Yakuza-Mäikte.«
»Die Schwarzmärkte.«
»Niemand in Tokio nennt sie schwarz. Sie sagen blau. Die Blauer-Himmel-Märkte.« Sie lächelte gedankenverloren und spreizte ihre Finger, so als würde sie das Aufgehen der Sonne nachahmen. »Blauer Himmel, weil der einzige Ort in Tokio, wo es keine Wolken gibt. Der einzige Ort in Tokio, wo es Essen gibt.« Sie schaute aus dem Fenster. Es war ein regnerischer Abend. Die Neonbeleuchtung von Yotsuya Sanchome flackerte und zischte und spuckte kleine Flammenzungen hinab auf die nasse Straße weit darunter. Die Skyline glitzerte verschwommen im Regen. »Größter Markt da drüben.« Sie wies hinaus in die Nacht. »In Shinjuku. Licht über Shinjuku.«
Ich hatte über den von der Mafia kontrollierten Markt in Shinjuku gelesen. Es musste ein unglaublicher Anblick im ausgebombten Tokio gewesen sein: Das Schild bestand angeblich aus Hunderten von Glühbirnen, so dass man es aus meilenweiter Entfernung sehen konnte, gleißend hell über den verbrannten Dächern der Stadt, wie ein Mond über einem versteinerten Wald. An den Ständen gab es Walfleisch in Dosen, Seehundwürste und Zucker. Es musste eine Atmosphäre wie bei einem Straßenfest geherrscht haben, mit Lampions in den Bäumen, zischenden Kohleöfen und Männern, die an den Ständen lehnten, Kasutori tranken und auf den Boden spuckten. In jenen Tagen war Kasutori der einzige Ersatz für Sake, den man in Tokio bekommen konnte; das dritte Glas, hieß es, machte einen blind, doch wen kümmerte das? Was machte schon ein bisschen Blindheit, wenn alle starben?
»Strawberry Mutter liebt Blauer-Himmel-Markt. Sie immer
geht mit anderen Kindern, um das Auto von Yakuza- Boss zu sehen. Es war einzige Auto, das man damals in Tokio sah, und Blauer Himmel ist ein Ort wie Paradies für sie. Sie kauft Kleider und Brot und Zanpan-Eintopf.« Strawberry hielt inne und sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. »Grey-san weiß, was Zanpan-Eintopf ist?« »Nein.«
»Resteeintopf. Gemacht von allem, was Gl Joe nicht essen. Aus GI-Joe-Kantine. Es ist nicht viel Fleisch in Zanpan. Wenn Yakuza mehr Fleisch in Zanpan tut, sie können verlangen mehr Geld. Es dreht sich alles um Ka-Tsching, Ka-Tsching.« Sie ahmte eine Geste nach, als würde sie Geld in eine Kasse legen.
»Ka-Tsching, Ka-Tsching! Also geht Yakuza auf Land, nach Gumma und Kanagawa, und stehlen Fleisch von Bauern ...«
Sie sah mich an. Plötzlich wirkte sie sehr klein und jung, wie sie so mit ihren fromm auf dem Tisch gefalteten Händen dasaß.
»Was?«, fragte ich. »Was ist?«
»Zanpan.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. Ihre Ferrari-roten Lippen glänzten und zuckten. »Das will ich Greysan erzählen. Strawberry Mutter findet Seltsames in Zanpan von Licht-über-Shinjuku-Markt.«
»Etwas Seltsames?«, wiederholte ich leise.
»Grey-san weiß, wer hinter Licht-über-Shinjuku stecken?
Die Fuyuki-Gang.«
»Und was hat Ihre Mutter in dem Eintopf gefunden?«
»Fett, das schlecht schmeckt. Nicht normal. Und Knochen.«
Ihre Worte waren jetzt kaum noch zu verstehen. Sie beugte sich vor, und ihre Augen funkelten. »Lange Knochen. Zu lang für Schwein, zu dünn für Kuh.« Ich vermeinte, etwas wie Traurigkeit in ihrem Blick zu erkennen, so als würde sie Bilder sehen, für die sie sich schämte.
»Was für ein Tier hat solche Knochen?«, fragte ich.
Sie bedachte mich mit einem sarkastischen Lächeln. »Auf
Blauer-Himmel-Markt kannst du alles kaufen. Sogar Oshaka.«
Oshaka. Dem Wort war ich schon einmal begegnet. Oshaka
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