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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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aufgehört, zwischen Küche und Esszimmer hin-und herzueilen. Jason war durch die Tür zur Krankenschwester hineingeschlüpft und unterhielt sich leise mit ihr. Immer wenn ich meinen Blick hob, sah ich ihn eindringlich auf sie einreden. Sie ließ sich beim Fleischschneiden nicht beirren - so als wäre Jason gar nicht da. Einmal drehte er sich um und ertappte mich dabei, wie ich ihn beobachtete. Ich muss sehr bleich und entsetzt ausgesehen haben. Er öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen, deutete dann mit verdrehten Augen und einem kaum merklichen Nicken auf die Krankenschwester und schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln.
    Ich schaute auf das kalt werdende Fleisch, auf dem sich eine erstarrende Fettschicht bildete. Mein Magen zog sich zusammen, und Übelkeit stieg in mir auf.
    Am Haupttisch unterhielten sich Bison und Fuyuki über einen mageren jungen Mann mit pockennarbiger Haut und blond gefärbten, abstehenden Haaren. Er war anscheinend neu und äußerst nervös, weil man ihn an den Tisch bestellt hatte.
    »Komm näher, Chimpira!«, befahl Fuyuki. »Komm her, Chimpira!« Chimpira war ein Wort, das ich bislang noch nicht gehört hatte. Erst Monate später fand ich heraus, dass es die Bezeichnung für den untersten Rang der Mafia war. Wortwörtlich bedeutete es »kleiner Schwanz«. Der Chimpira stellte sich vor Fuyuki, der sich mit seinem Rollstuhl vom Tisch wegdrehte und mit seinem Stock das lavendelfarbene Sakko des Chimpira anhob, um darunter ein schwarzes T-Shirt zu enthüllen. »Schau dir das an«, sagte er zu Bison, »so laufen sie heutzutage herum!« Bison lächelte gezwungen. Fuyuki schürzte die Lippen und schüttelte bedauernd den Kopf, während er seinen Stock wieder sinken ließ. »Diese jungen Burschen. Es ist eine Schande.«
    Er gab dem Kellner ein Zeichen, der daraufhin in der Küche verschwand. Jemand brachte einen Stuhl, und die Tischnachbarn machten Platz, damit sich der Chimpira neben Fuyuki setzen konnte. Er zog nervös sein Jackett fester um das beanstandete T-Shirt und ließ mit bleichem Gesicht seinen Blick über die anderen Gäste wandern. Erst als der Kellner eilig mit einem Tablett zurückkehrte, von dem er zwei kleine Becher, einen Krug Sake, ein Bündel dickes weißes Papier und drei kleine Schüsseln mit Reis und Salz nahm, entspannte sich der Chimpira. Ein ganzer Fisch lag auf einem Servierteller. Der Chimpira betrachtete die Elemente des Sakazuki-Rituals. Es bedeutete eine gute Nachricht. Fuyuki hieß ihn in seiner Gang willkommen. Als das Ritual begann - Fischschuppen wurden in den Sake geschabt, Salz zu kleinen Pyramiden aufgetürmt und Eide von Fuyuki und dem Chimpira geschworen -, fiel mir auf, dass alle Gäste im Raum gebannt das Schauspiel verfolgten. Niemand beachtete die Küche, in der die Krankenschwester inzwischen das Messer beiseite gelegt hatte und sich im Spülbecken die Hände wusch.
    Ich beobachtete heimlich, wie sie sich die Hände abtrocknete, ihre Perücke zurechtrückte und anschließend einen großen Behälter aus einer Schublade holte. Sie öffnete den Klappdeckel, versenkte die Hände darin und bewegte sie umher. Als sie sie wieder herauszog, waren sie mit einem feinen weißen Pulver bedeckt, das Talkumpuder oder Mehl sein mochte. Sie schüttelte die Hände, so dass der Über-schuss wieder in den Behälter rieselte, dann blickte sie auf und sagte etwas zu Jason. Ich rutschte verstohlen auf meinem Stuhl nach vorn und versuchte, von ihren Lippen zu lesen, doch sie wandte sich ab, streckte ihre weißen Hände aus und benutzte, ganz wie ein Chirurg, der den OP betrat, ihren Rücken, um damit die Tür am anderen Ende der Küche aufzustoßen. Dann war sie verschwunden. Niemand bemerkte, dass sie fort war, ebenso wie niemand bemerkte, dass Jason seine Zigarette ausdrückte und mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, während sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Ich erwiderte errötend seinen Blick. Er deutete mit einem Nicken in die Richtung, in der die Krankenschwester verschwunden war, fuhr sich mit seiner Zungenspitze über den angeschlagenen Zahn, hielt seine gespreizten Finger in die Höhe und hauchte stumm das Wort »fünf«. Anschließend verließ er den Raum
    durch dieselbe Tür wie die Krankenschwester und ließ mich mit meinen sich überschlagenden Gedanken allein.
    Jason war nicht im Entferntesten so, wie ich es mir erträumt hatte. Die ganze Zeit über hatte ich es mit etwas gänzlich außerhalb meines Vorstellungsvermögens zu

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