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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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die Serviererin wieder gegangen war, öffnete ich den Reißverschluss meiner Umhängetasche und holte mein japanisches Wörterbuch heraus. Es gibt im Japanischen drei Alphabete. Zwei sind phonetisch und mühelos zu verstehen. Aber es gibt ein drittes, das sich vor Jahrhunderten aus den bildlichen Darstellungen, die in China benutzt wurden, entwickelt hatte; und das ist bei weitem komplexer und unvergleichlich schöner. Kanji, heißt es. Ich studiere es seit Jahren, aber manchmal, wenn ich Kanji sehe, verdeutlichen die Schriftzeichen mir die Belanglosigkeit meines Lebens. Wenn man sich überlegt, wie viel Geschichte und wie viele Geheimnisse in einem einzigen Schriftzeichen enthalten sind, das kleiner als eine Ameise ist, wie kann man sich da nicht überflüssig vorkommen? Kanji besaß für mich eine bestechende Logik. Ich verstand, warum das Symbol für
    »Ohr«, wenn es dicht an das Symbol für »Tor« gerückt war,
    »lauschen« bedeutete. Ich verstand, warum drei eng zusammengedrängte Frauen »lärmend« bedeuteten und warum sich, wenn man plätschernde Linien links von jeglichem Schriftzeichen anfügte, die Bedeutung dahingehend veränderte, dass sie Wasser beinhaltete. Ein Feld mit einem angefügten Wassersymbol bedeutete »Meer«.
    Das Wörterbuch, mein ständiger Begleiter, war klein und vertraut, gebunden in etwas, das Kalbsleder sein mochte, und es passte wie angegossen in meine Hand. Das Mädchen mit
    den Dreadlocks hatte es nach dem Verlassen der Klinik aus einer Bibliothek gestohlen und mir per Post als Geschenk geschickt, als es sich unter den Patienten herumsprach, dass ich endlich entlassen werden sollte. Sie hatte
    eine Karte zwischen den Seiten versteckt, auf der stand: »Ich glaube dir. Zeig's diesen Arschlöchern. GEH und BEWEIS es, Schwester.« Selbst nach all diesen Jahren überkam mich bei dem Gedanken an diese Karte noch immer ein wohliges Gefühl.
    Ich schlug das Wörterbuch auf der ersten Seite auf, der Seite mit dem Bibliotheksstempel. Die Schriftzeichen für den chinesischen Namen Shi Chongming bedeuteten etwas in der Richtung von »Der, der sowohl Geschichte als auch Zukunft klar sieht«. Ich angelte einen roten Filzstift aus meiner Tasche und begann, die Kanji zu zeichnen, verflocht sie miteinander, stellte sie auf den Kopf, kippte sie auf die Seite, bis die ganze Seite rot war. Dann schrieb ich in ganz winzigen Lettern Shi Chongmings Namen auf Englisch in die Lücken. Als es wirklich keinen Platz mehr gab, blätterte ich zur letzten Seite und skizzierte einen Plan des Campus, schmückte ihn aus meiner Erinnerung mit Hecken und Bäumen aus. Der Campus
    war wunderschön. Ich hatte ihn nur kurz erblickt, doch ich empfand ihn wie ein Märchenland inmitten der Stadt: schattige Ginkgobäume, die dicht gedrängt weiße Kieswege säumten, reich verzierte Dächer und die leisen Geräusche eines dunklen Sees im Wald. Ich zeichnete die Kyudo-Halle, dann fügte ich aus meiner Phantasie einige Steinlaternen hinzu. Schließlich malte ich oberhalb von Shi Chongmings Büro sorgfältig ein Bild von mir, wie ich vor ihm stand. Wir reichten einander die Hand. In seiner anderen Hand hielt er einen Film in einer Dose, um ihn mir zu übergeben. Nach neun Jahren, sieben Monaten und achtzehn Tagen würde ich endlich die Antwort erhalten. Um achtzehn Uhr dreißig brannte die Sonne noch immer heiß vom Himmel, doch die mächtigen Eichentüren des Instituts für Sozialwissenschaften waren verriegelt, und uls ich mein Ohr an sie presste, hörte ich von drinnen keinen Laut. Ich wandte mich ab, schaute mich um und fragte mich, was ich nun tun sollte. Ich hatte sechs Stunden im Bambi-Cafe auf Shi Chongming gewartet, und obgleich niemand mich dazu aufforderte, hatte ich mich doch verpflichtet gefühlt, wieder und wieder, insgesamt viermal, geeisten Kaffee zu bestellen. Und noch vier weitere Melonen-Kopenhagener, bei denen ich meinen Finger anleckte und die verstreuten Zuckerkörner vom Teller aufsammelte. Zwischendurch streckte ich unauffällig meine Hand unter den Tisch und kramte verstohlen in meiner Tasche nach einem Butterkeks. Ich brach Stückchen davon ab und hob meine Hand ganz lässig an den Mund, so als würde ich gähnen. Die Hand voll Yen-Scheine schwand zusehends. Jetzt erkannte ich, dass es reine Zeitverschwendung gewesen war. Shi Chongming musste längst das Gebäude durch einen anderen Ausgang verlassen haben. Vielleicht hatte er damit gerechnet, dass ich auf ihn warten würde.
    Ich trat hinaus auf die

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