Tokio
Sägemehl und Eicheln, Erdnussschalen und Teeblättern, Kürbisstängeln und Körnern. Menschen verhungerten auf offener Straße. Der Mann in meinem Buch hatte ein Tuch vor sich ausgebreitet, auf dem zwei grob geschnitzte Löffel lagen. Als Teenager hatten mich diese Löffel beschäftigt. Es war nichts Besonderes an ihnen, sie waren nicht aus Silber oder graviert, es handelte sich lediglich um zwei kleine, ganz alltägliche Gebrauchsgegenstände - vermutlich alles, was er besaß. Und weil er essen musste, versuchte er, sie an jemanden zu verhökern, dem auf der Welt nichts fehlte außer zwei kleinen gewöhnlichen Löffeln.
Sie nannten es die Bambussprossenexistenz, das Zwiebelleben; jede Schicht, die abpellte, ließ einen mehr weinen, und selbst wenn man etwas zu essen fand, konnte man es nicht mitnehmen, weil sich auf den Straßen die Ruhr ausgebreitet hatte und man sie möglicherweise mit nach Hause zu seiner Familie schleppte. Kinder tauchten auf den Hafenkais auf, soeben aus der Mandschurei eingetroffen und mit weißen Glyzinenholzkästchen um den Hals, in denen sie die Asche ihrer Familien aufbewahrten.
Vielleicht war das der Preis der Unwissenheit, dachte ich, während ich den halb nackten Stadtstreicher betrachtete. Vielleicht musste Japan für die aus Unwissenheit in Nanking begangenen Taten bezahlen. Denn wie ich bis zum Überdruss gehört hatte, ist Unwissenheit keine Entschuldigung für Verderbtheit.
Die Obdachlosen waren verschwunden, als ich am nächsten
Morgen aufwachte. An ihrer Stelle beobachtete mich von der Bank gegenüber ein eindeutig aus dem Westen stammender Mann. Er war ungefähr in meinem Alter und saß breitbeinig da, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er trug ein Batik-T-Shirt mit dem Aufdruck Big Daddy Blake/ Killtime Mix, und um seinen Hals hing ein Lederband mit einem Anhänger, der wie ein Haifischzahn aussah. Seine Fußknöchel waren nackt und von der Sonne gebräunt, und er lächelte, als ob ich das Komischste wäre, das er je gesehen hatte. »He«, sagte er und hob die Hand. »Du hast so friedlich ausgesehen. Der Schlaf der Engel.«
Ich setzte mich so hastig auf, dass meine Umhängetasche zu Boden fiel, griff nach meiner Strickjacke und legte sie mir um die Schultern, dann strich ich mein Haar glatt und wischte mir eilig über Mund und Augen. Ich wusste, dass er mich anlächelte und mich mit diesem leicht verwunderten Blick musterte, mit dem mich die Leute immer ansahen.
»He, hast du mich gehört?« Er kam herüber und stellte sich neben mich. »Ich hab gefragt, ob du mich gehört hast? Sprichst du Englisch?« Sein Akzent klang merkwürdig. Er hätte aus England, Amerika oder Australien stammen können. Oder aus allen drei Ländern. »Sprichst - du - Englisch?«
Ich nickte.
»Oh, wirklich?«
Ich nickte wieder.
Er setzte sich neben mich und streckte mir seine Hand hin - hielt sie mir direkt unter die Nase, damit ich sie nicht übersehen konnte. »Nun, dann hallo. Ich bin Jason.«
Ich starrte auf die Hand.
»Ich habe gesagt: Hallo, ich bin Jason.«
Ich schüttelte eilig seine Hand, dann beugte ich mich zur Seite, damit ich ihn nicht streifte, während ich unter der Bank nach meiner Umhängetasche suchte. So war es auch an der Universität immer gewesen. Die Jungs hatten mich aufgezogen, weil ich so abweisend war, hatten mir das Gefühl gegeben, dass ich mich einfach in einem Loch verkriechen sollte. Ich holte meine Schuhe aus der Tasche und begann sie anzuziehen.
»Sind das deine Schuhe?«, fragte er. »Willst du die wirklich tragen?«
Ich antwortete nicht. Die Schuhe wirkten ziemlich altmodisch. Es waren schwarze, recht klobig aussehende Schnürschuhe mit dicken Sohlen, gänzlich unpassend für einen heißen Tag in Tokio.
»Bist du immer so unhöflich?«
Ich zog die Schnürsenkel fester zu als nötig, so dass meine Finger weiß wurden. Die Blasen an meinen Fußknöcheln scheuerten gegen das harte Leder.
»Cool«, sagte er amüsiert. »Du bist echt abgefahren.«
Etwas an der Art, wie er sprach, ließ mich in meiner Tätigkeit innehalten, und ich drehte mich zu ihm um. Die Sonne lugte hinter ihm durch die Bäume, und ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf kurz geschnittenes dunkles Haar, das sich in seinem Nacken und an den Ohren kräuselte. Manchmal —
auch wenn das niemand je erraten und ich es niemals zugeben würde -, manchmal ist das Einzige, woran ich denke, Sex.
»Nun, das bist du doch«, sagte er. »Oder etwa nicht? Abgefahren, meine ich. Auf 'ne nette
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