Tokio
Straße und zog inmitten der Menschenmenge mehrere gefaltete Seiten aus meiner Tasche. Eins der letzten Dinge, die ich in London getan hatte, war, einen Stadtplan von Tokio zu kopieren - ein Plan in einem sehr großen Maßstab, der aus mehreren Seiten bestand. Mein Blick schweifte nach rechts und links die Hauptstraße entlang. Sie mutete wie eine Schlucht an, da die Gebäude so dicht gedrängt und hoch waren. Geschäftigkeit und Lärm umgaben mich. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte alles aufgegeben, um hierher zu kommen und Shi Chongming zu treffen.
Nachdem ich den Plan zehn Minuten lang studiert hatte und noch immer nicht wusste, wie es weitergehen sollte, stopfte ich ihn wieder in die Tasche, schloss die Augen und drehte mich auf der Stelle im Kreis, während ich laut zählte. Als ich bei fünfundzwanzig angelangt war, öffnete ich die Augen und schlug, ohne mich um die unfreundlichen Blicke der anderen Fußgänger zu kümmern, die Richtung ein, in die ich schaute. 3
Ich irrte stundenlang durch Tokio und bestaunte
die wie Glasgebirge aufragenden Wolkenkratzer,
die Reklamewände für Zigaretten und Alkohol, die
blechernen, mechanischen Stimmen, die mich von
allen Seiten beschallten und in mir Bilder von Irrenanstalten hoch oben im Himmel wachriefen.
Ich lief im Kreis umher, orientierungslos wie ein
Wurm, wich Leuten auf dem Heimweg von der
Arbeit, Radfahrern, kleinen, verloren wirkenden
Schulkindern in makellosen Matrosenanzügen aus,
deren Lederranzen wie polierte Käferflügel
glänzten. Ich habe keine Ahnung, wie viele Meilen
ich zurücklegte oder wohin ich ging. Als das Licht
in der Stadt erloschen war, meine Kleidung
schweißdurchtränkt, der Trageriemen meiner Tasche sich in meine Schulter gegraben und ich Blasen an den Füßen hatte, blieb ich stehen. Ich befand mich auf dem Gelände eines Tempels, umgeben von Ahornbäumen, Zypressen und verblühenden Kamelien. Es war dort kühl und still; man hörte nur das gelegentliche Rascheln Hunderter buddhistischer Gebetszettel, die an den Zweigen hingen. Dann entdeckte ich, gespenstisch stumm unter den Bäumen, Reihen steinerner Abbilder von Kindern mit handgestrickten roten Mützchen. Ich sank bestürzt auf eine Bank und erwiderte ihre starren Blicke. Sie standen in ordentlichen Reihen, einige mit einem Windrad oder einem Teddy in der Hand, andere mit kleinen Lätzchen um den Hals. Ihre leblosen, traurigen Gesichter konnten einen zum Weinen bringen. Also erhob ich mich und ging zu einer anderen Bank, damit ich sie nicht länger ansehen musste. Ich streifte meine Schuhe ab und zog meine Strumpfhose aus. Meine nackten Füße fühlten sich wunderbar an in der kühlen Luft - ich streckte sie aus und wackelte mit den Zehen. Am Eingang zum Schrein sah ich eine Schale mit Wasser. Sie war für die Gläubigen gedacht, damit sie sich die Hände waschen konnten. Ich nahm die Bambuskelle und schöpfte Wasser über meine Füße. Es war kühl und klar. Anschließend trank ich eine Hand voll davon. Als ich mich umdrehte, schienen sich die Steinkinder bewegt zu haben, so, als wären sie synchron einen Schritt zurückgewichen, entsetzt von meinem Benehmen an diesem heiligen Ort. Ich starrte sie eine Weile an. Dann setzte ich mich wieder auf die Bank, holte eine Packung Kekse aus meiner Tasche und machte mich daran, sie zu verzehren.
Ich konnte nirgendwo hin. Der Abend war warm und der
Park still. Über mir ragte der hell erleuchtete rot-weiße TokyoTower auf. Als es dunkel wurde, leuchtete in den Bäumen eine Lampe auf, und es dauerte nicht lange, bis sich Obdachlose auf den umstehenden Bänken zu mir gesellten. Egal, wie abgerissen die Stadtstreicher aussahen, sie hatten alle kleine Mahlzeiten dabei, einige sogar in lackierten Bento-Schachteln, und Essstäbchen. Ich saß auf meiner Bank, knabberte an meinen Keksen herum und beobachtete sie. Sie aßen ihren Reis und starrten mich an.
Einer der obdachlosen Männer breitete nahe dem Eingang
Pappe, die er mitgebracht hatte, aus und ließ sich, nackt bis auf eine dreckige Jogginghose und einen Schmutzring um den Bauch, darauf nieder. Es machte ihm Freude, mich zu beobachten und dabei zu lachen - ein winziger, irrer Buddha, der sich in Ruß gesuhlt hatte. Ich starrte ihn schweigend an. Er erinnerte mich an ein Foto in einem meiner Lehrbücher, das einen verhungernden Mann im Tokio nach Kriegsende zeigte. In jenem ersten Jahr, als MacArthur hier seine Kommandozentrale einrichtete, ernährten sich die Japaner von
Weitere Kostenlose Bücher