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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Art. Auf 'ne englische Art. Kommst du da her?«
    »Ich ...« Hinter ihm standen die gespenstischen Steinkinder in Reih und Glied, von den ersten Strahlen der Sonne beleuchtet, die sich in den Tautropfen auf ihren Schultern und ihren Mützchen brachen. In der Ferne reflektierten die reglos in den Himmel ragenden Wolkenkratzer ein Spiegelbild von Tokio, das so klar und rein wie ein Gebirgssee war. »Ich ...«, hauchte ich, »... ich hatte keinen anderen Platz zum Schlafen.«
    »Hast du kein Hotel?«
    »Nein.«
    »Bist du gerade erst angekommen?« »Ja.«
    Er lachte. »In meiner Bleibe gibt es Platz genug. Mindestens hundert Zimmer.« »In deiner Bleibe?«
    »Klar doch. In meinem Haus. Du kannst da ein Zimmer mieten.« »Ich hab kein Geld.«
    »Scheiß drauf! Das hier ist Tokio. Hör nicht auf das Geschwafel der Wirtschaftsleute, hier kann man immer noch Geld scheffeln. Du musst nur die Augen aufmachen. An jeder Ecke gibt's Hostessenklubs.«
    Die Mädchen an der Uni hatten immer davon geschwärmt, in den Tokioter Hostessenklubs zu arbeiten. Sie hatten sich ausgemalt, wie viel sie verdienen könnten und mit welchen Geschenken man sie überhäufen würde. Ich saß schweigend da und dachte im Stillen, wie schön es wäre, so selbstsicher zu sein.
    »Ich kellner in einem«, fuhr er fort. »Ich kann dich der Mama-san vorstellen, wenn du willst.«
    Mir schoss das Blut in die Wangen. Er hatte ja keine Ahnung, welche Gefühle es in mir weckte, mir auch nur vorzustellen, in einem Hostessenklub zu arbeiten. Ich wandte mich ab, stand auf und klopfte den Staub von meiner Kleidung.
    »Im Ernst. Du kannst dir da 'ne goldene Nase verdienen. Die Rezession hat die Klubs noch nicht erreicht. Und sie mag Spackos, unsere Mama-san.«
    Ich antwortete nicht, zog den Reißverschluss meiner Strickjacke zu und hievte mir meine Umhängetasche über den Kopf, so dass der Trageriemen quer über meiner Brust lag.
    »Tut mir Leid«, erwiderte ich unbeholfen, »ich muss weiter.«
    Ich verschränkte die Arme und ging in den Park hinein. Der Wind frischte auf und ließ die Windräder der Kinder ratternd kreisen. Über mir spiegelte sich die Sonne in den Wolkenkratzern.
    Am Ausgang des Parks holte er mich ein. »He«, sagte er. Ich blieb nicht stehen, also ging er neben mir her und grinste. »He, Spacko. Hier ist meine Adresse.« Ich blieb stehen. Er hielt ein Stück von einer Zigarettenschachtel in der Hand, auf dem mit Kugelschreiber eine Adresse samt Telefonnummer gekritzelt war. »Komm, nimm schon. Du wärst eine Bereicherung in unserem Haus.«
    Ich sah auf das Pappstück.
    »Komm schon.«
    Ich zögerte, dann nahm ich hastig das Stück ZigarettenSchachtel und ging meiner Wege. Hinter mir hörte ich ihn lachen und johlen. »Du bist echt klasse, Spacko. Du gefällst mir.«
    Als mir die Serviererin im Bambi-Cafe an jenem Morgen
    Kaffee und einen Kopenhagener brachte, stellte sie auch einen großen Teller mit Reis, einige frittierte Fischbällchen, zwei kleine Schälchen mit eingelegtem Gemüse und eine Schüssel Misosuppe auf den Tisch.
    »Nein«, sagte ich auf Japanisch. »Nein. Das habe ich nicht bestellt.«
    Sie warf einen nervösen Blick zum Geschäftsführer, der am Tresen saß und Kassenbons gegenrechnete. Dann drehte sie sich wieder zu mir um, verdrehte die Augen und legte einen Finger auf die Lippen. Später, als sie mir die Rechnung brachte, bemerkte ich, dass sie mir nur den Kopenhagener berechnet hatte. Ich saß eine Weile da und wusste nicht, was ich sagen sollte, starrte ihr nur stumm nach, während sie an den anderen Tischen bediente, ihren Bestellblock aus der Cocktailschürze zog, sich mit einem rosa Maruko-ChanKugelschreiber am Kopf kratzte. Derartiger Großzügigkeit begegnet man nicht jeden Tag, zumindest nicht meiner Erfahrung nach. Unvermittelt fragte ich mich, wer wohl ihr Vater war. Ihr Großvater. Ich fragte mich, ob er je mit ihr darüber gesprochen hatte, was in Nanking geschehen war. Jahrelang hatte man in den Schulen das Massaker totgeschwiegen, jede Erwähnung des Krieges in den Büchern gelöscht. Die meisten erwachsenen Japaner hatten nur eine vage Vorstellung von dem, was 1937 in China passiert war. Hatte die Serviererin überhaupt je von Nanking gehört?
    Man muss etwas sehr lange studieren, ehe man es versteht. Nenn Jahre, sieben Monate und neunzehn Tage. Und selbst das ist für manche Dinge nicht lang genug, wie sich herausstellte. Selbst nachdem ich alles über die Jahre der japanischen Invasion in China gelesen habe,

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