Tokio
weiß ich immer noch nicht wirklich, warum dieses Massaker stattgefunden hat. Die Experten - Soziologen, Psychologen, Historiker — scheinen es zu verstehen. Sie sagen, es sei die Angst gewesen. Sie sagen, dass die japanischen Soldaten Angst gehabt hätten und müde und hungrig gewesen seien, dass sie verzweifelt um Shanghai gekämpft und unter Cholera und Ruhr gelitten hatten, durch halb China marschiert seien und kurz vor dem Zusammenbruch gestanden hätten, als sie die Hauptstadt erreichten. Einige von ihnen sagen, dass die japanischen Soldaten nichts weiter als das Produkt einer machthungrigen Gesellschaft seien, dass man ihnen eingetrichtert habe, die Chinesen als eine niedere Rasse zu betrachten. Einige sagen, dass eine solche Armee, als sie schließlich in Nanking einmarschierte und Tausende von hilflosen Bürgern vorfand, die sich in den ausgebombten Gebäuden versteckten ... Nun, manche Leute sagen, vielleicht war das, was dann geschah, keine wirkliche Überraschung. Die kaiserliche japanische Armee brauchte nicht lange. Binnen weniger Wochen hatten sie bis zu dreihunderttausend Zivilisten getötet. Als sie fertig waren, so erzählt man sich, brauchte man keine Boote, um von einem Ufer des Jangtse ans andere zu gelangen. Man konnte über die Leichen gehen. Die Japaner waren sehr einfallsreich, wenn es um das Erfinden neuer Tötungsarten ging. Sie gruben junge Männer bis zu den Hälsen im Sand ein und fuhren mit Panzern über ihre Köpfe. Sie vergewaltigten alte Frauen, Kinder und Tiere. Sie enthaupteten und zerstückelten und folterten; sie benutzten Babys als Übungszielscheiben für ihre Bajonette. Man würde von keinem, der jenen Holocaust überlebt hatte, erwarten, dass er den Japanern je wieder über den Weg traute.
Es hatte ein 16-mm-Projektor in Shi Chongmings Büro gestanden, an den ich die ganze Nacht über denken musste. Wann immer sich die Idee in meinen Kopf schlich, dass ich mir die Erwähnung in der akademischen Zeitschrift nur eingebildet hätte, sagte ich mir: »Wofür braucht ein Soziologieprofessor einen Filmprojektor?«
Er traf kurz vor zehn an der Universität ein. Ich entdeckte ihn schon von weitem, winzig wie ein Kind, während er sich mühsam den Bürgersteig entlangbewegte. Seine marineblaue Jacke war gänzlich unjapanisch mit Schleifen auf einer Seite geschlossen, und über sein langes weißes Haar hatte er sich einen schwarzen Plastikanglerhut gestülpt. So humpelte er auf seinen Stock gestützt dahin, halb so schnell wie alle anderen. Als er schließlich das rot lackierte Tor erreichte, erwartete ich ihn schon, ließ ihn nicht aus den Augen, während er auf mich zukam.
»Hallo!« Ich trat einen Schritt vor, und Shi Chongming blieb wie angewurzelt stehen.
Er sah mich wütend an. »Sprechen Sie mich nicht an«, murmelte er. »Ich will nicht mit Ihnen reden.« Er hinkte in Richtung des Instituts davon. Ich folgte ihm, ging Seite an Seite mit ihm. Es muss sehr förmlich angemutet haben, ein mürrischer kleiner Akademiker, der eilig über den Campus humpelte und so tat, als ob da keine seltsam gekleidete Ausländerin mit ihm Schritt hielt. »Mir gefällt nicht, was Sie da wollen.«
»Aber Sie müssen mit mir reden. Das hier ist die wichtigste Sache der Welt.«
»Nein. Dafür bin ich der Falsche.«
»Das sind Sie nicht, Shi Chongming. Ich suche seit fast zehn Jahren nach dem, was auf diesem Film ist. Seit neun Jahren, sieben Monaten und ...«
»Und achtzehn Tagen. Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß.« Er blieb stehen und starrte mich an. Der Zorn ließ kleine orangefarbene Pünktchen in seiner Iris funkeln. Er musterte mich sehr lange, und mir ging durch den Sinn, dass ich ihn wohl an etwas erinnerte, denn sein Blick war so eindringlich und gedankenverloren. Schließlich seufzte er und schüttelte den Kopf. »Wo wohnen Sie?«
»Hier, in Tokio. Und es sind jetzt sieben Monate und neunzehn Tage.«
»Dann sagen Sie mir, wo Sie zu erreichen sind. Vielleicht kann ich Ihnen in ein, zwei Wochen, wenn ich weniger beschäftigt bin, ein Interview über meine Zeit in Nanking geben.«
»In einer Woche? O nein, ich kann keine Woche warten. Ich habe kein ...«
Er schnaubte verärgert. »Wissen Sie, was einige der reichen Bürger von Peking tun, um ihren Söhnen Englisch beizubringen?«
»Wie bitte?«
»Wissen Sie, wie weit sie gehen?« Er hob seine Zunge und deutete auf den verbindenden Gewebestrang darunter. »Sie schneiden die Zungen ihrer Söhne auf, hier, hier drunter, wenn die Knaben
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