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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hatte einen seltsam konzentrierten Ausdruck.
    »Mr. Shi?«
    Er wandte sich zu mir um. In den scheckigen Schatten des Flurs wirkte sein Gesicht bleich. »Was befindet sich hier dahinter?«
    »Der Garten. Machen Sie den Fensterladen ruhig auf.«
    Er zögerte einen Moment, dann öffnete er ihn und starrte durch das schmutzige Fenster hinaus. Der Garten lag im gleißenden Sonnenlicht in atemloser Stille vor ihm; nicht ein Blatt bewegte sich. Die Bäume und Kletterranken sahen staubig und beinahe unwirklich aus. Shi Chongming stand lange da, bis er schließlich sagte: »Ich würde gern in den Garten gehen. Lassen Sie uns den Tee dort trinken.«
    Ich hatte noch nie den Garten betreten, wusste nicht einmal, ob es einen Zugang gab. Die Russinnen waren nicht da, also musste ich Jason aufwecken und ihn fragen. Er kam zerknautscht und gähnend, mit einer Zigarette im Mundwinkel, an die Tür. Er musterte Shi Chongming schweigend von Kopf bis Fuß, dann zuckte er die Achseln. »Ja, klar doch. Es gibt einen Weg.« Er führte uns zu einer unverschlossenen Tür nur zwei Räume von meinem Zimmer entfernt, die sich auf eine schmale hölzerne Stiege öffnete.
    Ich war verblüfft, denn ich hatte nicht gewusst, dass Trep-'
    pen nach unten existieren, hatte mir immer vorgestellt, dass das Erdgeschoss hermetisch abgeriegelt wäre. Doch dort, am Fuß
    der dunklen Stiege, gab es ein Zimmer, ohne Möbel und mit einem von totem Herbstlaub bedeckten Steinboden. Uns gegenüber befand sich eine zerrissene Shoji-Schie- betür, grün schimmernd vom Licht des Gartens dahinter. Wir blieben einen Moment stehen und betrachteten sie.
    »Ich bin sicher, dass es da draußen keine Sitzgelegenheit gibt«, bemerkte ich.
    Shi Chongming legte eine Hand an die Schiebetür. Von der anderen Seite hörte man ein Summen, wie von einem kleinen Generator, vielleicht eine der Klimaanlagen des Salt-Gebäudes. Shi Chongming verharrte einen Augenblick in dieser Haltung, bevor er zog. Die Schiebetür war rostig, sperrte sich kurz, gab dann jedoch nach und rollte zurück.
    Unvermittelt drängte sich das grüne Dickicht eines Dschungels in den Durchgang. Wir starrten schweigend hinaus. Eine Glyzine, so dick und stark wie die Faust eines Boxers, hatte so lange ungezähmt gewuchert, dass sie nicht mehr blühte, sondern sich in einen lebenden Käfig verwandelt hatte, der sich von der Tür weg erstreckte. Haarmützenmoos und tropische Kletterranken wanden sich darum, Moskitos lauerten in seinen dunklen Winkeln. Wild wuchernde Dattelpflaumen-und Ahornbäume, überzogen mit Moos und Efeu, kämpften um Raum.
    Shi Chongming trat hinaus in den Urwald, bewegte sich behände auf seinen Stock gestützt voran, während das grüngelbe Licht über seinem seltsam geformten Kopf tanzte. Ich folgte ihm zögernd mit dem Tablett. Die Luft war drückend schwer von Hitze, Insekten und dem Aroma der beißenden Baumsäfte. Ein riesiger geflügelter Käfer hüpfte vor meinen Füßen auf und flog in Richtung meines Gesichts. Seine Bewegungen wirkten beinahe künstlich, wie die eines von Menschenhand geschaffenen Vogels. Ich wich einen Schritt zurück, um ihm auszuweichen, und verschüttete dabei etwas Tee auf dem Tablett. Der Käfer schwebte hinauf in die Bäume, ließ sich auf einem Ast nieder, streckte seine glänzenden kastanienbraunen Flügel aus und begann, jenes Summen zu produzieren, das ich für einen Generator gehalten hatte. Ich starrte ihn fasziniert an. Semi-no-koe, nannte der Dichter Basho es. Die Stimme der Zikade. Das älteste Geräusch Japans.
    Ein Stück weiter vorn hatte Shi Chongming eine Lichtung
    entdeckt. Ich folgte ihm, wischte die Spinnweben ab, die an meinen Armen klebten, und spähte mit zusammengekniffenen Augen auf das glitzernde weiße Salt-Gebäude, das vor dem grellblauen Himmel aufragte. Der Garten war noch größer, als ich es mir vorgestellt hatte; zu meiner Linken lag ein sumpfiges Gelände und ein im Schatten eines riesigen Ahornbaums unter verrottendem Laub erstickter Lotusteich, über dem Mückenschwärme tanzten.
    Daneben, in den von Moos überwucherten, verfallenen Überresten eines japanischen Steingartens, war Shi Chongming stehen geblieben. Er ließ seinen Blick umherschweifen, so als hielte er nach etwas Ausschau. Er war so konzentriert, dass ich mich umwandte und in die gleiche Richtung starrte. Hinter den Bambusbüscheln lugten die ockerroten Sicherheitsgitter der Erdgeschossfenster hervor, und ich erkannte eine zerfallene Zierbrücke, die sich über den

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