Tokio
Nähe von Shanghais berühmter
Uferpromenade gelegenes Haus verbarrikadiert und seine Frau samt Sohn nach Nanking geschickt, während er selbst an der Universität geblieben war, wo er in einem Hörsaal schlief und so lange es ging Vorlesungen hielt. Als die Stadt eingenommen wurde, war er der Gefangennahme entronnen, indem er sich in einer Abfalltonne in der Universitätsküche versteckte, und schließlich, mit knappem Vorsprung vor der japanischen Armee, inmitten einer riesigen Flüchtlingswelle auf hoffnungslos überladenen Flach-und Hausbooten nach Nanking gelangte.
»Als ich nach Suzhou kam, habe ich die japanischen Soldaten mit eigenen Augen gesehen. Ich habe beobachtet, wie sie über die Kanäle gesprungen sind - wie Dämonen. Und die Arisakas über ihren Schultern haben dabei gerasselt. Sie sind so behände, dass nichts sie aufhalten kann. Die Riben Guizi.«
Seine Worte weckten leises Unbehagen in mir. Hier, in der Abgeschiedenheit seines Heims, wirkte Liu Runde weniger tapfer und enthusiastisch als auf der Straße. Von Zeit zu Zeit rieb er sich die Nase oder warf einen nervösen Blick zum Fenster. Vielleicht war er ebenso besorgt wie ich.
»Wissen Sie«, sagte er und zog seine Augenbrauen hoch,
während er sich dicht zu mir beugte und verkniffen lächelte,
»dass ich sogar gesehen habe, wie Shanghai, die gesamte Stadt Shanghai, über die Ebenen landeinwärts getrieben ist?«
»Shanghai? Wie kann das sein?«
»Ja. Sie denken, ich wäre verrückt. Oder träume. Aber es ist wahr. Ich stand auf der Uferböschung und habe Shanghai landeinwärts treiben sehen.«
Ich blickte ihn stirnrunzelnd an. »Ich verstehe nicht.«
Er lachte. »Ja! Dieser Gesichtsausdruck! Das ist genau der gleiche Gesichtsausdruck, den ich hatte, als ich es sah. Ks brauchte seine Zeit, bevor ich mich selbst überzeugen konnte, dass ich nicht den Verstand verlor. Wissen Sie, was ich wirklich gesehen habe?«
»Nein.«
»Ich sah die Panik der Einwohner von Shanghai. Sie haben ganze Gebäude zerlegt. Ganze Fabriken. Können Sie sich das vorstellen? Sie haben sie auf Dschunken und Dampfern landeinwärts transportiert, südwestlich nach Chongqing. Ich habe Turbinen den Jangtse hinuntertreiben sehen, eine ganze Fabrik, eine Spinnerei...« Er streckte seine Hand aus und ahmte das Dümpeln eines Boots am Horizont nach. »Ganz Shanghai segelte flussaufwärts nach Chongqing.«
Er lächelte, ermutigte mich zu antworten, doch ich schwieg. Etwas stimmte hier nicht. Eine Weile zuvor hatte Lius Frau eine Pastete aus gemahlenen Kastanien auf den Tisch gestellt, die mit dem Schriftzeichen für Glück dekoriert war. Ich schaute kurz in den Korridor, in den die Frau verschwunden war, dachte an ihr so seltsam in sich gekehrtes Verhalten - und schlagartig wurde mir alles klar.
Natürlich. Jetzt begriff ich. Ich sah den alten Liu an, mit seinem verhärmten Gesicht und dem grau werdenden Haar, und verstand. Er focht mit seiner Frau den gleichen Kampf aus wie ich mit Shujin. Es besteht kein Zweifel, dass er die Japaner fürchtet, doch Aberglaube und rückständiges Denken fürchtet er noch mehr. Wir sitzen im selben Boot, Liu und ich, und im Gegensatz zu dem alten Sprichwort, träumen wir genau denselben Traum.
»Ehrwürdiger Liu«, ich beugte mich etwas näher zu ihm und flüsterte, »vergeben Sie mir.« Ich schluckte und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Es fiel mir nicht leicht, dies zu sagen. »Vergeben Sie mir, wenn ich Sie nicht verstanden habe. Ich glaube, Sie sagten vorhin, dass es nichts von den Japanern zu befürchten gebe.«
Bei diesen Worten verwandelte sich Lius Miene. Er lief krebsrot an und rieb sich hektisch die Nase, als würde er krampfhaft versuchen, nicht zu niesen. Er richtete sich auf und schaute in die Richtung, in die seine Frau verschwunden war.
»Ja, ja«, polterte er. »Ja, genau das habe ich gesagt.« Er hielt tadelnd einen Finger hoch. »Eins dürfen wir
um keinen Preis vergessen: Jene, die am Kuomintang zweifeln, werden uns beobachten und in unseren Augen prüfend nach Zuversicht suchen. Bleiben Sie zuversichtlich, Herr Shi, bleiben Sie zuversichtlich. Wir tun das Richtige.«
Während ich durch den Schnee nach Hause stapfte, versuchte ich, meinen Kopf erhoben zu halten. Bleiben Sie zu- versichtlich. Wir tun das Richtige. Doch ich erinnerte noch etwas anderes, etwas in Bezug auf unsere Begegnung, das Unbehagen in mir geweckt hatte. Während wir auf dem Markt standen und uns unterhielten, bemerkte ich, dass sich
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