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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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einmal zuvor getroffen und konnte mir anfänglich nicht erklären, was er auf einem Markt in Nanking machte.
    Ich faltete meine behandschuhten Hände und verbeugte mich vor ihm. »Was für ein Zufall, Sie zu treffen«, sagte ich und ließ
    meine Hände sinken, »hier in Nanking.«
    »Was für ein Zufall, Sie zu treffen, Mr. Shi.« Er trug ein traditionelles Männergewand, in dessen weiten Ärmeln Platz für die tragbare Kohlenpfanne war, an der er seine Hände wärmte, und dazu - seltsamerweise - einen westlichen Hut mit einem breiten grauen Band. Er zog die Kohlenpfanne
    aus den üppigen Falten seines Gewands und stellte sie auf dem Boden ab, damit er die Verbeugung erwidern konnte.
    »Was für ein sonderbarer Zufall, überhaupt jemanden zu treffen. Ich hatte gedacht, das gesamte Kollegium der Jin-lingUniversität wäre aus der Stadt geflohen.«
    »O nein. Nein, nein. Nicht ich.« Ich zog meine Jacke am
    Hals fester zusammen und versuchte, gelassen zu klingen, ganz so, als wäre es nie meine Absicht gewesen fortzugehen.
    »Meine Frau erwartet ein Kind. Sie muss in der Nähe der Krankenhäuser, des städtischen Gesundheitszentrums bleiben. Eine ausgezeichnete Einrichtung, mit modernsten
    medizinischen Geräten.« Ich stampfte ein paarmal mit den Füßen auf, als ob ich nicht nervös wäre, sondern nur die Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben suchte. Als er nichts sagte, schaute ich mich auf der verlassenen Straße um, beugte mich dann dichter zu ihm und flüsterte: »Warum? Halten Sie es für einen Fehler?«
    »Einen Fehler?« Er sah nachdenklich die Straße entlang, über meine Schulter hinweg, ließ seinen Blick versonnen über die verzinkten Dächer in Richtung Osten schweifen. Nach einer Weile hellte sich seine Miene auf, und er sah mich mit einem warmen Lächeln an. »Nein. Absolut kein Fehler. Ganz im Gegenteil.«
    Mein Herz tat einen Sprung. »Im Gegenteil?«
    »Ja. Oh, gewiss. Da gibt es jene, die kein Vertrauen in unseren Präsidenten haben - manchmal scheint es so, als ob ganz China das Vertrauen in ihn verloren hat und ins Landesinnere flüchtet. Aber so weit es mich angeht, habe ich mich entschieden. Ich bin aus Shanghai geflohen, das gebe ich zu, aber meine Tage der Flucht sind vorüber.«
    »Es gibt da jene, die sagen, dass Tang schwach sei, nicht entschlossen genug. Was halten Sie von dieser Ansicht?
    Manche Leute meinen, die Japaner werden kurzen Prozess m i t uns machen, in die Stadt einfallen und uns in unseren I läusern umbringen.«
    »Pfui! Manche Leute haben zu viel Angst vor Veränderung, wenn Sie mich fragen. Es braucht Männer wie uns, wie Sie und mich, Herr Shi, um Rückgrat zu zeigen. Um die feige, rückständige Nation zu vergessen, die wir hinter uns gelassen haben - um Vertrauen in den von unserem Präsidenten auserwählten General zu beweisen. Denn was wären wir sonst?
    Ein Haufen von Feiglingen, mehr nicht. Außerdem haben die Streitkräfte der Nationalisten noch so manches Ass im Ärmel. Schauen Sie doch nur dort, jenseits der östlichen Stadtmauer. Können Sie den Rauch erkennen?« »Ja.«
    »Das sind brennende Gebäude außerhalb der Ostmauer. Niedergebrannt von unseren Soldaten. All jenen, die behaupten, dass Chiang Kai-schek keine militärische Linie hätte, sage ich nur eins: verbrannte Erde. Die Strategie der verbrannten Erde. Lass die Japaner nichts finden, nichts, mit dem sie sich auf ihrem Marsch stärken können. Das wird ihnen schnell den Garaus machen.«
    Unbeschreibliche Erleichterung überkam mich. Plötzlich erhielt ich Bestätigung, Versicherung, dass ich nicht allein war. Es schien mir, als würde ich hier mit einem teuren alten Freund plaudern. Wir redeten und redeten, während Schnee auf unsere Schultern rieselte. Und als wir im Verlauf unserer Unterhaltung zufällig entdeckten, dass er und seine Familie keinen halben Li von Shujin und mir entfernt wohnten, entschieden wir, die Unterhaltung bei ihm daheim fortzusetzen. Wir schlenderten zurück zu seinem Haus, einer einstöckigen Hütte aus Lehmziegeln mit einem Daoiing-Strohdach, ohne Innenhof und Strom, in dem Liu, seine Frau und ihr halbwüchsiger Sohn lebten, ein kleiner dunkler Bursche, der so aussieht, als hätte er sich im Dreck gewälzt.
    Liu hat viele Dinge aus Shanghai mitgebracht, ausländischen Luxus: Dosen mit Kondensmilch und französische Zigaretten, die wir rauchten, während wir uns wie zwei Pariser Intellektuelle unterhielten. Wie sich herausstellte, hatte der alte Liu im Sommer sein in der

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